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Wie umgehen mit der Vielfalt?

Interview mit Prof. Dr. Oliver Reis von der Uni Paderborn über aktuelle Fragen des Religionsunterrichts

Im Religionsunterricht kommen junge Menschen mit Kirche und Glaubensthemen in Kontakt, auch wenn viele von ihnen keine Bindung an Kirche haben. Wie ist die aktuelle Situation, und wie reagiert man im Religionsunterricht auf die immer weiter zunehmende Pluralität der Weltanschauungen? Fragen an Professor Dr. Oliver Reis vom Lehrstuhl für Religionspädagogik an der Universität Paderborn.

Redaktion

Warum braucht Schule Religionsunterricht?

Prof. Dr. Oliver Reis

Gerade jetzt in der Corona-Pandemie ist das eine interessante Frage. Wir haben aktuell die Situation, dass Religionsunterricht häufiger ausfällt. Das hat damit zu tun, dass er oft klassenübergreifend erteilt wird, zumindest an weiterführenden Schulen. Und das ist mit den geltenden Hygienekonzepten nicht vereinbar… grundsätzlich funktioniert Schule also ohne Religionsunterricht. Aber es fehlt auch etwas an Schulen, wenn es ihn nicht gibt. Fächer wie Religion, Kunst oder Philosophie sollten fester Teil der Schule sein. Sie eröffnen eine andere Wirklichkeit hinter den Dingen des Alltags, des Funktionierens, die in anderen Fächern nicht vorkommt. Wirklichkeiten der Empfindungen, der Ahnungen, der Zweideutigkeiten, des Zweifelns, die gerade in dieser Corona-Zeit mächtig sind und aufgenommen werden sollten.

Redaktion

Haben diese Fächer deshalb eine Sonderrolle an der Schule?

Prof. Dr. Oliver Reis

Das würde ich nicht sagen. Religionsunterricht ist zumindest in weiterführenden Schulen gut mit anderen Fächern verflochten, und das bis in die Oberstufe hinein. Es gibt Überschneidungen mit Hauptfächern wie Deutsch oder Latein, etwa wenn im Deutschunterricht „Nathan der Weise“ oder im Lateinunterricht „Der Gottesstaat“ von Augustinus gelesen wird. Aber von den Praktiken und Methoden her ist sicherlich die Nähe zu den sogenannten kleinen Fächern größer. Ich denke da an offene Diskussionen, projektbezogene Gruppenarbeiten oder ganzheitliche Arbeitsformen.

Redaktion

Warum ist Religionsunterricht für die Kirchen von Interesse?

Prof. Dr. Oliver Reis

Für Kirche ist Religionsunterricht ein wichtiger Ort, um in Kontakt mit gesellschaftlichen Schnittstellen zu kommen. Man hat in der Schule keinen Einfluss darauf, wer kommt und teilnimmt, und in den Klassen sitzen eben nicht nur Menschen, die in der Kirche aktiv sind. Die Gruppen sind äußerst heterogen und es ist nicht einfach, das zu bespielen. Religionsunterricht ist so auch ein wichtiger Ort, um zu zeigen, was Kirche kann. Das macht ihn für die Kirche zu einem wertvollen Ort, an dem viele Menschen die Institution kennenlernen können. Individueller Glaube und kirchlich gebundener Glaube treffen unmittelbar aufeinander.

“Für Kirche ist Religionsunterricht ein wichtiger Ort, um in Kontakt mit gesellschaftlichen Schnittstellen zu kommen. Man hat in der Schule keinen Einfluss darauf, wer kommt und teilnimmt, und in den Klassen sitzen eben nicht nur Menschen, die in der Kirche aktiv sind. Die Gruppen sind äußerst heterogen und es ist nicht einfach, das zu bespielen. Religionsunterricht ist so auch ein wichtiger Ort, um zu zeigen, was Kirche kann. Das macht ihn für die Kirche zu einem wertvollen Ort, an dem viele Menschen die Institution kennenlernen können.”

Prof. Dr. Oliver Reis

Redaktion

Kinder und Jugendliche sind sehr unterschiedlich, was religiöses Wissen oder religiöse Erfahrungen angeht, die Bindung an Kirche wird immer geringer. Wie reagiert man im Religionsunterricht darauf?

Prof. Dr. Oliver Reis

Für Lehrkräfte besteht die große Versuchung, mit einer „Versachkundlichung“ des Religionsunterrichts auf diese Situation zu reagieren. Die Themen werden dann als „Wissensgegenstände“ aufgefasst. Die leitende Frage lautet dann zum Beispiel: „Was macht Christinnen und Christen aus? Wie ist der Ablauf einer Eucharistiefeier?“ Und nicht: „Wer sind wir? Was hat die Eucharistiefeier mit meinem Glauben zu tun?“ Man erwirbt im Religionsunterricht also religionskundliches Wissen, das – wie ich befürchte – schnell wieder vergessen wird. Nach Rudolf Englert wird ein Großteil des Religionsunterrichts auf diese Weise erteilt.

Redaktion

Wie bewerten Sie das?

Prof. Dr. Oliver Reis

Wenn man die Themen des Religionsunterrichts wie Wissensgegenstände behandelt, findet eine „Vereindeutigung“ statt, eine Reduktion von interner Pluralität. Das bedeutet auch, dass christlich getaufte Schülerinnen und Schüler nicht mehr als Gläubige adressiert werden. Das ist sicherlich eine Möglichkeit, Konflikte zu vermeiden. Angesichts der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler sind solche Strategien verständlich. Aber man kann hier schon die Frage stellen, wo an dieser Stelle das konfessionell getragene Fach noch bleibt und was zum Beispiel die kirchliche Erteilung der Missio Canonica dann überhaupt noch soll… Die gerade laufende Lehrplanreform in NRW wird durch die starke Betonung der Reflexion diese Versachkundlichung vermutlich weiter vorantreiben.

Redaktion

Gibt es andere Möglichkeiten, auf die aktuelle Situation zu reagieren?

Prof. Dr. Oliver Reis

Ja, die gibt es, zum Beispiel den performativen Religionsunterricht. Hier wird versucht, Schülerinnen und Schülern ohne außerschulische religiöse Erfahrung anzubieten, dass sie in Schule selbst Erfahrungen machen können. Etwa durch Exkursionen oder auch durch das Nachstellen einer Taufe im Klassenraum oder durch das Beten. Da kann man natürlich fragen: Darf man Schülerinnen und Schülern solche Erfahrungen zumuten? Und was machen solche Erprobungen mit den Handlungen selbst? Kann man ein Gebet erproben? Aber man schafft so immerhin die Möglichkeit, dass die Schüler etwas zu reflektieren haben. Wenn eigene Erfahrungen mit Taufe oder Gebet nicht mehr da sind – was will man dann reflektieren? Die Deutsche Bischofskonferenz fordert in ihren Grundlagenpapieren auch die Möglichkeit von praktischen Erfahrungen im Religionsunterricht und es ist gut, wenn diese auch im Lehrplan erhalten bleiben Es gibt aber noch eine weitere Form, die meiner Meinung nach am tragfähigsten ist.

“Für Lehrkräfte besteht die große Versuchung, mit einer „Versachkundlichung“ des Religionsunterrichts auf diese Situation zu reagieren. Die Themen werden dann als „Wissensgegenstände“ aufgefasst. Die leitende Frage lautet dann zum Beispiel: „Was macht Christinnen und Christen aus? Wie ist der Ablauf einer Eucharistiefeier?“ Und nicht: „Wer sind wir? Was hat die Eucharistiefeier mit meinem Glauben zu tun?“ Man erwirbt im Religionsunterricht also religionskundliches Wissen, das – wie ich befürchte – schnell wieder vergessen wird.”

Prof. Dr. Oliver Reis

Redaktion

Nämlich?

Prof. Dr. Oliver Reis

Es gibt Konzepte, die die weltanschauliche Pluralität im Klassenraum selbst zum Thema machen. Es werden verschiedene Positionen im Raum markiert, etwa bei einem Thema wie Leid. Ein Satz wie „Gott hat in Jesus Christus am Kreuz mit uns gelitten“ setzt eine starke Gottesbeziehung voraus, die 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler nicht mehr haben. Sie kämen nicht auf die Idee, einen solchen Satz zu äußern oder ein Gebet zu sprechen, wenn sie selbst Leid erfahren. Sie erleben sich dann eher als allein in die Welt gestellt und stellen sich die Frage: Wer hilft mir jetzt? Was kann ich tun? Ich glaube, es ist trotzdem möglich, diese Position mit einer Position zu konfrontieren, die mit der Existenz Gottes rechnet. Man lässt die Pluralität der Positionen im Raum bewusst stehen, in einer Art offenen Arena. Für mich ist dies deshalb die tragfähigste Form, weil sie individuell konfessorisch und konfessionell ist, also unter anderem auch Positionen des christlichen oder ausdrücklich katholischen Glaubens einbringt, ohne die Schüler zu überfordern.

Redaktion

Was braucht es für diese Form?

Prof. Dr. Oliver Reis

In erster Linie Lehrkräfte, die offene Gespräche strukturiert führen können und die in der Lage sind, ihre und andere Positionen zu einem Thema einzubringen und mit denen der Kinder und Jugendlichen sinnvoll zu verbinden. Ein Unterrichtsmodell – wie das eben geschilderte – lebt von einer offenen und diskursiven Gesprächskultur, die wir bisher kaum entwickelt haben. Es braucht also viel Weiterbildung in diesem Bereich. Ich meine auch, dass die Kirche für solche Modelle eine neue Balance lernen muss: auf der einen Seite Menschen in ihrer Freiheit zu sehen, sie auf der anderen Seite aber auch als Gesprächspartner ernst zu nehmen und Erwartungen an sie zu äußern. Damit meine ich, dass man ihnen durchaus zutrauen kann, dass sie mit religiösen oder theologischen Begriffen oder christlichen Positionen oder Anforderungen umgehen können, dass es wichtig ist, den Umgang zu lernen, weil sie in der Welt einen Unterschied machen.

Redaktion

Gilt das nur für die Schule?

Prof. Dr. Oliver Reis

Nein, das gilt zum Beispiel auch für den Umgang miteinander in den Gemeinden. In Gottesdiensten fällt mir zum Beispiel auf, dass Gemeinden unabhängig von Corona während der Liturgie oft kaum noch antworten oder dies sehr leise tun. Zum Teil fehlt rituelles Wissen, zum Teil die Bereitschaft, sich zu synchronisieren. Die Frage ist dann, ob der Priester das einfach so hinnimmt oder ob er das einmal thematisiert. Was ist die Erwartung an die eucharistische Gemeinde? Wenn er die Menschen als Gegenüber, als aktive Mitgestaltende von Liturgie, ernstnimmt, müsste er es eigentlich thematisieren.

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