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Erzbistum Paderborn
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Heilige Großfamilie um Maria und Jesus© Rüdiger Glahs

Die heilige Großfamilie

Vater, Mutter, Jesuskind - das ist die gängige Vorstellung von der Heiligen Familie. Doch in den Evangelien liest man von Geschwistern Jesu. Wie das zusammenpassen soll, zeigt ein Bild in der Dortmunder Propsteikirche

Wie groß war Jesus' Familie?

Egal wie groß oder klein die Krippenlandschaft, drei Figuren dürfen keinesfalls fehlen: Josef, Maria und das Jesuskind. Diese weihnachtliche Stammbesetzung nennt man auch die Heilige Familie. Das heißt aber nicht, dass Jesus nicht noch mehr Verwandte gehabt hätte. Bei Markus liest man von Jesu Brüdern und Schwestern (Mk 3,31) und Matthäus nennt sogar Namen: Jakobus, Josef, Simon und Judas (Mt 13,55). Das stellte die Theologie vor ein Problem – und führte in der Kunst des Spätmittelalters zu einer außergewöhnlichen Darstellungsform: der „Heiligen Sippe“.

Zwischen 1468 und 1475 malte der Weseler Künstler Derick Baegert (um 1440-um 1515) ein Altarretabel für die damalige Klosterkirche der Dominikaner in Dortmund. Das dreiflügelige Bild zeigt rechts die Anbetung der Könige und in der Mitte eine große Kreuzigung. Beide Szenen sind neben den bekannten Protagonisten von einer eine Fülle von Nebenfiguren bevölkert – der Figurenreichtum seiner Kompositionen gilt sogar als Charakteristikum für Baegerts‘ Werk. Lässt man den Blick weiter nach links schweifen, könnte man meinen, dass sich dieser Stil auch auf der linken Tafel fortsetzt. Maria mit dem Jesuskind auf dem Schoß im Zentrum und darum formieren sich weitere Nebenfiguren, damit das Bild nicht so leer aussieht. Doch Halt, hier ist etwas anders: In goldener Schrift trägt jede Figur einen Namen.

© Rüdiger Glahs

Familienbild mit Jesus

Wen die Darstellung an einen Stammbaum erinnert liegt nicht falsch. Die linke Tafel des Dortmunder Altars ist ein sogenanntes Sippenbild, eine Darstellung der weiteren Verwandtschaft Marias. Warum diese Verwandtschaft zu einem Motiv in der Kunst wurde, liegt nicht zuletzt an dem bereits erwähnten Problem mit den Brüdern und Schwestern Jesu. Die Frage, ob der Gottessohn leibliche Geschwister gehabt hatte, beschäftigte schon spätantike Gelehrte, unter anderem den Kirchenvater und Bibelübersetzer Hieronymus (4. Jhd.). Denn den kirchlichen Autoritäten zufolge hatte Maria Jesus nicht nur ohne Erbsünde und jungfräulich empfangen, sondern sie war es danach auch geblieben. Dass sie weitere Kinder mit Josef gehabt hätte: Ausgeschlossen.

In der Ostkirche setzte sich die Vorstellung durch, dass es sich eben um Kinder aus Josefs erster Ehe handeln müsse. Der heilige Hieronymus hingegen nahm sich die übersetzerische Freiheit heraus und machte aus Brüdern Cousins. Damit war das Problem für ihn gelöst. Dass er damit eine Legenden-Lawine lostrat, konnte er nicht ahnen. Denn den Menschen reicht es nicht, einfach nur zu hören, dass Jesus anscheinend weitere Verwandtschaft hatte. Sie wollen es genauer wissen. Der Schritt von der Bibelübersetzung zur Vorstellung von der Heiligen Sippe verlief über eine Person. Die findet sich auch bei Derick Baegert. Mit ihr entschlüsselt sich das ganze Gemälde. Es geht um die ältere Frau links neben Maria, die ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß hält: Anna.

Wie es zur heiligen Großfamilie kommt

An der Großmutter Jesu hängt man dann die weitere Verwandtschaft Jesu auf, die sich in der theologischen Frage nach den Geschwistern andeutete. Im Laufe des Mittelalters entsteht die Erzählung vom „Trinubium“ (dt. dreimalige Vermählung) Annas. Legendensammlungen wie die „Legenda Aurea“ des Dominikaners Jacobus de Voragine (1228/29-1298) verbreiten die Geschichte, dass Anna nicht nur einmal – mit Joachim – verheiratet war, sondern nach dessen Tod erst mit Kleophas und wiederum nach dessen Tod mit Salomas vermählt gewesen sei. In jeder Ehe habe sie eine Tochter bekommen, die sie alle Maria nannte. Damit man die Gottesmutter nicht mit ihren nachgeborenen Halbschwestern verwechselt, gibt man ihnen die Namen ihrer Väter als Beinamen: Maria Kleophas und Maria Salome.

Während Josef und Maria nach dieser Erzählung ausschließlich (Zieh)Eltern des Gottessohnes sind, bekommt Maria Kleophas mit ihrem Mann Alphäus die Kinder Jakobus den Jüngeren, Joseph den Gerechten, Simon Zelotes und Judas Thaddäus. Maria Salome und ihr Bräutigam Zebedäus werden Eltern von Jakobus dem Älteren und Johannes dem Evangelisten. Diesen legendären Verwandtschaftsverhältnissen zufolge wäre Anna nicht nur Großmutter Jesu, sondern könnte auch Apostel, wichtige Figuren der Urgemeinde und einen Evangelisten zu ihren Enkeln zählen. Eine wahrlich heilige Sippe.

Warum waren Sippenbilder so beliebt?

Bei Baegert ist dieser Teil der Heiligen Sippe auf der linken Bildhälfte dargestellt. Auf der rechten findet sich weitere Verwandtschaft mütterlicherseits. In Grün und Rot gewandet sitzt dort Elisabet mit ihrem Sohn Johannes dem Täufer. Beide werden in den Evangelien erwähnt, ebenso ihr Verwandtschaftsverhältnis zu Maria. Die mittelalterliche Legendentradition formt es aus und verknüpft es mit Annas Sippe. Denn Annas Schwester Esmeria sei Mutter der Elisabet. Und auch auf dieser Seite öffnet sich eine weit verzweigte Verwandtschaft, die über Nebenlinien bis zum heiligen Servatius führt, dem ersten Bischof von Tongern in Belgien. Auf dem Dortmunder Altarbild hat Derick Baegert von 30 möglichen Personen 25 (und einen Engel) abgebildet.

Aus heutiger Perspektive mag das Sippenbild seltsam erscheinen. Es fußt in großen Teilen auf Legenden und ist von einer merkwürdigen Gleichzeitigkeit geprägt: alle nacheinander verstorbenen Ehemänner der Anna sowie der heiligen Servatius, der wiederum im 4. Jahrhundert gelebt haben soll, werden zusammen gezeigt. Auf Baegerts‘ Altarbild fällt noch auf, dass die Frauen mit ihren Kindern das Zentrum des Bildes bilden. Anders als in den Krippen dieser Tage steht oder kniet der heilige Josef nicht direkt bei Maria und Jesus, sondern steht rechts hinter dem Thron Mariens. Auch die anderen Männer stehen am Rand. Wie passt dieser Fokus auf die Müttergemeinschaft in eine patriarchale Gesellschaft wie die des Mittelalters?

Die Bedeutung von Familie nach der Pest

Als Derick Baegert das Bild in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts malte, erlebte die Annenverehrung gerade eine Hochphase. Ihr Gedenktag, der 26. Juli, war vom Papst in den Römischen Festkalender aufgenommen worden. Außerdem waren die Pestepidemien abgeklungen. Den Menschen ging es langsam besser, sie waren glücklich, überlebt zu haben. Und sie richteten ihre Aufmerksamkeit darauf, wer aus ihren Familien auch überlebt hatte und welche Verstorbenen man betend in Erinnerung behalten musste. Plötzlich interessierten sich nicht nur Adlige für Ahnenforschung, auch reiche Patrizier ließen sich Stammbäume und Familienwappen entwerfen. Die Bedeutung von Familie stieg. Die Form von Familie war jedoch weiter die der Sippe, der weitverzweigten Verwandtschaft. Sippengemälde transportieren also das Familienverständnis und die damit verknüpften bürgerlichen Werte.

Anna als mächtige Mutterfigur, die dreimal heiratete und viele Nachkommen hatte, wurde bis ins 14. Jahrhundert hinein als durchaus positiv gesehen. Kunsthistoriker erkennen darin noch Reste heidnischer Fruchtbarkeitskulte. Für die Gläubigen war Anna zudem das weise Familienoberhaupt. Deshalb liegt bei Baegert ein aufgeschlagenes Buch in ihrem Schoß. Der Legende nach lehrte sie Maria das Lesen und unterwies sie im Glauben. Anna und Maria waren somit auch Bindeglieder zwischen Alten und Neuem Testament.

Familienbilder ändern sich

Keine hundert Jahre nach Fertigstellung des Altarbildes, erkaltet das Interesse an der heiligen Anna. Auf dem Konzil von Trient (1545-1563) wird kritisiert, dass die Geschichten von der dreimaligen Heirat und den weitverzweigten Verwandtschaftsverhältnissen in den Evangelien nicht zu belegen seien. Statt der heiligen Anna als „Stammmutter“ einer heiligen Großfamilie, werden nun die beiden – biblisch fassbaren – Kernfamilien um Maria und Elisabet dargestellt. Ein weiterer Grund dafür, dass die Sippengemälde in der Kunst weniger wurden, ist das sich wandelnde Familienbild. Auch wenn man damals noch weit von den Geschlechterrollen der Moderne entfernt war, rückt die Kernfamilie an die Stelle der Sippe – und der heilige Josef damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Statt der dominanten Großmutterfigur inmitten einer Müttergemeinschaft, wie Baegert sie darstellt, werden Darstellungen häufiger, die Josef als liebevoll-strengen Lehrer Jesu etwa in seiner Werkstatt zeigen. Diese Lehrerrolle hat er von Anna übernommen. Genauso wie die des Familienoberhaupts und des Vaters allgemein. Diese Verschiebung von der Sippe hin zur Kernfamilie prägt nicht nur das Bild der Heiligen Familie bis heute.

Was kann die Heilige Sippe heute noch vermitteln?

Da stellt sich die Frage, was moderne Menschen mit dem linken Altarbildflügel von Derick Baegert anfangen können. Ist die Heilige Sippe nicht entlarvt und entzaubert? Fast. Indem man ihn im Kreise einer Großfamilie darstellte, vermittelte man: Gott ist tatsächlich Mensch geworden. Wie jeder Mensch auf der Welt hatte er Eltern, Großeltern, nahe und entfernte Verwandte. Er war von Menschen umgeben. Menschen, die ihn als ihren Sohn, Enkel oder Vetter liebten. Menschen, die ihn nicht immer verstanden. Ganz normale Menschen, die ihn als kleinen Jungen gekannt hatten, aber nach Ostern zum Glauben fanden und seine Botschaft weitertrugen. Die Heilige Sippe ist letztlich nichts anderes als ein Versuch, die menschliche Realität des Gottessohnes ins Bild zu fassen. Und das ist für die Gläubigen des Spätmittelalters genauso wichtig wie für die von heute. Gerade in diesen weihnachtlichen Tagen.

Ein Beitrag von:
Redakteur

Cornelius Stiegemann

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