Es ist ein kleiner Satz, gegen Ende des Gesprächs. „Man gewöhnt sich an alles“, sagt Alexander Sperling. Fünf Worte, die man kaum glauben kann. Denn ein paar Sätze zuvor hat Sperling erzählt, dass er als Jude im Deutschland der Gegenwart in einem Zustand ständiger Bedrohung lebt. Und betet. „Für Christinnen und Christen ist das vermutlich schwer vorstellbar, aber bei jedem Gottesdienstbesuch habe ich den Gedanken im Hinterkopf: Ein Anschlag wie 2019 auf die Synagoge in Halle könnte auch mir hier und jetzt in dieser Synagoge passieren.“ Nicht ohne Grund steht vor jedem jüdischen Gotteshaus ein Polizeiauto.
Erinnern und Engagieren
Dennoch, sagt Sperling, stelle sich ein Gewöhnungseffekt ein: „Ich bin damit aufgewachsen, meine Kinder wachsen damit auf. Nach einer gewissen Zeit ist das Gefühl der Bedrohung nicht mehr so präsent“, sagt er. „Bis dann etwas passiert, bei dem es einen wieder wie der Schlag trifft.“ Davidsterne an Hauswänden. Brandanschläge auf Synagogen.
Antisemitische Straftaten auf traurigem Höchststand
Am Donnerstag hat der Beauftragte der Bundesregierung für den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, jüngste Zahlen zu antisemitischen Vorfällen vorgestellt: Im gesamten Jahr 2023 gab es 2.300 antisemitisch motivierte Straftaten – 2.249 davon entfallen auf die Zeit nach dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober.
Für jüdische Menschen wie Alexander Sperling, der der Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe ist, sind diese Zahlen Lebensrealität. Rund 100 Synagogen gebe es in Deutschland. „Die Wahrscheinlichkeit, selbst Opfer einer antisemitischen Tat zu werden, ist gegeben“, sagt Sperling. Die Bedrohung komme „sowohl von deutschen Rechtsextremisten wie in Halle, als auch von Islamisten – was seit dem 7. Oktober ein besonderer Faktor ist.“
Den Angriff der Hamas sieht Sperling in einer Reihe mit den generationenübergreifenden Traumata des jüdischen Volkes, die von jahrhundertelanger Verfolgung und Ausgrenzung bis zur Shoah reichen. Er spricht deshalb von einer Retraumatisierung der Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt durch die Ereignisse seit dem 7. Oktober. „Israel galt als sicherer Hafen. Selbst denen, die nie dorthin auswandern wollten, gab die Existenz Israels Selbstsicherheit für ihr jüdisches Leben in der Diaspora.“ Dieses Sicherheitsgefühl sei erschüttert. Die antisemitischen Vorfälle seit dem 7. Oktober in Deutschland würden die Verunsicherung nur noch verstärken.
Begegnung und Austausch helfen gegen Vorurteile
80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs fühlen sich Jüdinnen und Juden in Deutschland noch immer nicht sicher. Antisemitismus ist in der deutschen Gesellschaft nach wie vor präsent. Was kann man dagegen tun? Ein Weg: Begegnung. Wen man persönlich kennt, dem kann man nur schwer mit Gleichgültigkeit oder Ablehnung begegnen. Vorurteile können abgebaut werden. Und über Kultur und Musik kann man etwas von der Lebenswirklichkeit des anderen erfahren.
Wie kann diese Begegnung nun aussehen? Auf dem Gebiet des Erzbistums Paderborn leben etwa 6.000 Jüdinnen und Juden – und 1,4 Millionen Katholikinnen und Katholiken. Rein zahlenmäßig ist ein Austausch im Format 1:1 also kaum möglich. Zudem sind die jüdischen Gemeinden oft mit jüdischem Religionsunterricht, Jugendarbeit und sozialen Projekten ausgelastet. „Aber auch Veranstaltungen mit wenigen oder ohne jüdische Menschen können für jüdische Kultur und Religion bereichern und sensibilisieren“, sagt Sperling. Die werden dann mit nicht-jüdischen Dialogpartnern organisiert. Ein solcher Partner sind die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (GCJZ).
Versöhnung zwischen jüdischen und christlichen Menschen
Nach dem Zweiten Weltkrieg gründen sich an vielen Orten in Deutschland Vereine, die sich für eine Versöhnung von Christinnen und Christen mit Jüdinnen und Juden nach dem Menschheitsverbrechen der Shoah einsetzen. Diese Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit – denen man vor Ort übrigens ganz einfach beitreten kann! – sind bis heute vielerorts maßgeblich an der Gestaltung des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus beteiligt. Im Laufe der Jahre hat sich das Engagement der GCJZ weiterentwickelt. Mit Vorträgen, koscheren Kochkursen und Klezmer-Konzerten schaffen die Engagierten der GCJZ „eine Offenheit für jüdische Religion und Kultur. So können sich Christinnen und Christen positiv damit auseinandersetzen“, sagt Sperling.
Und die können dann selbst als Vermittler jüdischer Themen in den gesellschaftlichen Diskurs hinein fungieren. Denn „im interreligiösen Dialog ist es für uns Juden relativ schwer, den nichtreligiösen Teil der Gesellschaft miteinzubeziehen.“ Dialogformate wie die GCJZ bestehen mit anderen Religionsgemeinschaften. In einer säkularer werdenden Gesellschaft müssen aber auch die Menschen erreicht werden, die religionsfern leben. „Bei allen Begegnungsformaten sollte es daher darum gehen, das Thema in die Mitte der Gesellschaft zu tragen“, sagt Sperling.
Antisemitismus ist ein Problem der ganzen Gesellschaft
Jüdinnen und Juden wie er sind – auch wenn sie sich manchmal fast an dieses Gefühl gewöhnen mögen – in ihrem Alltag der ständigen Bedrohung durch Antisemitismus ausgesetzt. „Aber Antisemitismus ist nicht nur das Problem jüdischer Menschen, es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem.“ Wo Antisemitismus vorherrsche, seien freiheitlich-demokratische Werte insgesamt in Gefahr. Nicht zuletzt sollte das dazu motivieren, sich für jüdische Menschen und ihre Themen einzusetzen, sich und andere dafür zu sensibilisieren. Und das Ziel sollte sein, dass jüdisches Leben ein selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft wird.
27. Januar: Der Gedenktag für die Opfer der Nationalsozialistischen Gewaltherrschaft
Am 27. Januar 1945 erreichte die sowjetische Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Deshalb begehen wir an diesem Datum heute den Gedenktag für die Opfer der Nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Wir gedenken der Millionen Menschen, die während der Shoah und der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten gelitten und ihr Leben verloren haben.
An diesem Tag gedenken wir der über 6 Millionen jüdischen Opfer. Aber auch an die Menschen anderer ethnischer Gruppen, politischer Überzeugungen und Religionen, der kranken und behinderten Menschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt, verschleppt und getötet wurden.
Dieser Gedenktag verpflichtet uns alle, gegen Hass, Diskriminierung und Intoleranz einzutreten und eine gerechte und friedliche Welt zu schaffen.
Gedenkveranstaltungen im Erzbistum Paderborn
25.1.2024, 18.30 Uhr, Reinoldihaus, Reinoldistraße 7-9, Dortmund, Die Kinder von Auschwitz. Drei Zeitzeug:innen erzählen ihre Geschichte
26.1.2024, 8.30 Uhr, Petrikirche Minden, Ritterstraße 5-7, Gedenkveranstaltung
27.1.2024, 14.30 Uhr, Fred-Meier-Platz, Kreuztal-Littfeld (Siegen), Grubenstraße 31, Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus
27.1.2024, 17.00 Uhr, Gaukirche St. Ulrich, Paderborn, Gedenken an die Opfer der Nationalsozialistischen Gewaltherrschaft
27.1.2024, 17.00 Uhr, August-Hermann-Francke Gymnasium, Georgstraße 24, Detmold (Lippe), Von Widerstand und Mitläufern
28.1.2024, 18.00 Uhr, Ev. Matthäuskirche, Am Brodhagen 36, Bielefeld, „Aber es lässt einen nie ganz los“, Shoah-Gedenkgottesdienst
29.1.2024, 19.30 Uhr, St. Jodokus, Klosterplatz, Bielefeld, „Wieder zu Haus?“, Gedenkgottesdienst