
„Es gibt so viele Gründe, dankbar zu sein“

Interview mit Erzbischof em. Hans-Josef Becker anlässlich seines 75. Geburtstages
100 Jahre alt will er nicht werden, sagt Erzbischof em. Hans-Josef Becker anlässlich seines 75. Geburtstags. Doch er schätzt die Gelassenheit, die sein neuer Lebensabschnitt mit sich bringt. Ein Geburtstags-Interview darüber, wie ihn der Dienst als Erzbischof herausgefordert und bereichert hat, ob er überhaupt Zeit für Freundschaften hatte – und was er sich selbst zu verzeihen hat.
Worüber würden Sie gern in diesem Interview sprechen?
(Lacht). Ein Interview heißt doch eigentlich, dass ich gefragt werde.
Genau. Deswegen die Frage, Herr Erzbischof: Welches Thema bewegt Sie gerade?
Das ist vielleicht der neue Lebensabschnitt, der mich seit über einem halben Jahr beschäftigt und in dem ich mich gut zurechtfinde. Dafür bin ich dankbar. Ich freue mich, in dieser Verfassung zu sein und jetzt auf meinen 75. Geburtstag zuzugehen. Letztlich bestimmt die Dankbarkeit meine Stimmung.
Sie haben im vergangenen Jahr um ihren Rücktritt gebeten. Danach wurde bekannt, dass sie erkrankt sind. Hing das zusammen?
Nein, die Krankheit kam später, das hatte gar nichts miteinander zu tun. Es gab später eine Darm-Operation und jetzt gibt es einen guten Therapieverlauf.

"Diese Schnelllebigkeit ist für uns alle eine besondere Herausforderung, wir Menschen mussten so viel wahrnehmen und verarbeiten wie kaum je zuvor."
Erzbischof em. Hans-Josef Becker:
Wie geht es Ihnen heute?
Mir geht es gut, sehr gut.
Sie werden 75. Wie blicken Sie auf dieses dreiviertel Jahrhundert?
Es ist sicherlich eine sehr bewegte Zeit gewesen. Und vor allem in den letzten 30 Jahren ist diese Zeit von sehr rapiden und schnelllebigen Veränderungen geprägt worden. Diese Schnelllebigkeit ist für uns alle eine besondere Herausforderung, wir Menschen mussten so viel wahrnehmen und verarbeiten wie kaum je zuvor.
Und jetzt im Ruhestand, hat sich da bei Ihnen eine gewisse Gelassenheit eingestellt?
Ja, das kann man sicherlich sagen. Wenn man von unmittelbarem Handlungsdruck befreit ist, dann kommt eine Gelassenheit und eine Freiheit ins Leben, die ich sehr zu schätzen weiß.
Die Freiheit nutzen Sie jetzt zu Ihrem Geburtstag?
Ich werde im Terminkalender nicht mehr so stark fremdbestimmt. Meinen Geburtstag werde ich im Urlaub in den Bergen verbringen.
Wie darf man sich das vorstellen?
Ich feiere im ganz kleinen Kreis, wir werden höchstens fünf Personen sein.
Abseits von Paderborn und Urlaubsorten, besuchen Sie Ihre Heimat Belecke nun öfter?
Zum Sturmtag und zum Jahrgangstreffen war ich da. Mein Elternhaus steht dort und ich kann da auch übernachten. Ich habe Schulfreunde und Bekannte dort, mein Bruder wohnt in Belecke.
"Ich hatte immer Freude daran, freundschaftliche Kontakte nicht abreißen zu lassen und Besuche zu unternehmen. Ich bin mehr geprägt durch das Positive. Ich habe hilfreiche Begleitung und wohlwollende Kritik erfahren, dazu sind bewährte Freundschaften gewachsen."
Erzbischof em. Hans-Josef Becker

Hat das Amt des Erzbischofs überhaupt Raum für Freundschaften gelassen?
Ich hatte immer Freude daran, freundschaftliche Kontakte nicht abreißen zu lassen und Besuche zu unternehmen. Das habe ich zumindest versucht. Und das kann ich heute natürlich viel intensiver. Alle sind für den eigenen Sozialraum verantwortlich. Es wächst einem nicht alles zu, in gute Beziehungen muss man investieren.
Was war das schönste Erlebnis in Ihrer Zeit als Erzbischof?
Das kann ich beim besten Willen nicht festmachen. Eine ganze Reihe wäre zu nennen.
Sie hatten viele Monate Zeit, um Rückschau zu halten. Da muss Ihnen doch etwas eingefallen sein?
Es gibt überwiegend positive Erfahrungen, die ich machen durfte. Und natürlich kamen auch schwerwiegende Erlebnisse dazu. Aber das ist so wie in jedem anderen Leben auch. Ich bin mehr geprägt durch das Positive. Ich habe hilfreiche Begleitung und wohlwollende Kritik erfahren, dazu sind bewährte Freundschaften gewachsen. In der Bistumsleitung haben wir uns gut verstanden. Das ist nicht selbstverständlich.
Dankbarkeit scheint Ihnen wichtig zu sein.
Für mich ist das eine Grundhaltung und Erfahrung, die ich machen durfte, auch wenn ich jetzt Bilanz ziehe. Es gibt so viele Gründe, dankbar zu sein, weil vieles im Leben einfach nicht selbstverständlich ist. Ich entdecke im Nachhinein viele von mir weniger beachtete gute Erfahrungen und Eindrücke, die noch dazukommen. Als Erzbischof wollte ich auf keinen Fall sarkastisch werden, ich habe mich immer bemüht um echte Offenheit, nicht voreingenommen zu sein, also mit einer positiven Wertschätzung in Gespräche und Diskussionen zu gehen. Der Humor war und ist mir dabei eine wichtige Stütze.
Trotzdem macht auch ein Erzbischof Fehler. Haben Sie sich etwas selbst zu verzeihen?
Wer Entscheidungen trifft und manchmal auch unter Druck steht, ist nicht davor gefeit, Fehler zu machen. Es fällt mir schwer, das selbst zu bewerten, aber es hat in meiner Amtszeit nicht nur optimale Entscheidungen gegeben. Damit muss ich umgehen. Manches habe ich im Nachhinein bereut.
Sie sind 1977 zum Priester geweiht worden. Konnten Sie das umsetzen, wofür Sie angetreten sind?
Ja, uneingeschränkt.
Vertrauenskrise
„Die Vertrauenskrisen, die uns als Kirche und die Gesellschaft beschäftigen. Wir haben mit einer Verrohung zu tun. Der Ton wird kälter, die Mitmenschlichkeit nimmt ab und wird weniger wertgeschätzt. Ich frage mich, warum vor allem das Negative attraktiv ist, beispielsweise in der medialen Berichterstattung.“
Erzbischof em. Hans-Josef Becker

Wofür sind Sie angetreten?
Mich für das Heil der Menschen und zum Lobe Gottes einzusetzen. Das Feiern der Liturgie und die Verkündigung haben für mich einen sehr prägenden Stellenwert. Eine wertvolle Zeit waren die 15 Jahre als Seelsorger in Lippstadt.
Glauben und Zweifeln liegen sehr beieinander. Was lässt sie glauben und zweifeln?
Ihre Aussage ist etwas schwarz-weiß. Ich glaube, das Wort Jesu „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ gilt auch heute uneingeschränkt. Wir müssen Krisen auch in ‚göttlicher Pädagogik‘ verstehen: Wir wissen nicht, wo uns die gegenwärtigen Krisen hinführen werden. Ich nehme den Willen Gottes als Faktor ernst.
Welche Krisen beschäftigen Sie?
Die Vertrauenskrisen, die uns als Kirche und die Gesellschaft beschäftigen. Wir haben mit einer Verrohung zu tun. Der Ton wird kälter, die Mitmenschlichkeit nimmt ab und wird weniger wertgeschätzt. Ich frage mich, warum vor allem das Negative attraktiv ist, beispielsweise in der medialen Berichterstattung.
Welchen Beitrag kann Kirche leisten, damit es anders wird?
Unsere Möglichkeiten sind nicht mehr so ausgeprägt, die Kirchen verlieren an gesellschaftlichem Einfluss. Mit Blick auf die Gesellschaft können wir die Meinungsbildung unterstützen und uns in solidarischem Verhalten engagieren. Als Kirche müssen wir Glaubwürdigkeit in dem herstellen, was wir verkündigen.
Sie haben das Thema Vertrauen angesprochen. Ihre Amtszeit wird nun auch im Forschungsprojekt der Universität Paderborn zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum Paderborn untersucht. Wie ist das für Sie?
Normal. Für mich ist das mit der Stellung eines Erzbischofs verbunden. Ich schließe mich von der Aufarbeitung nicht aus. Ich nehme das sehr ernst und gehe dem mit Offenheit entgegen.
Ich würde gerne noch einmal auf Ihre Erfahrungen zurückkommen. Was würden Sie Menschen raten, die sich für den Glauben engagieren oder gerade ein Engagement starten? Welche Haltung sollten Sie einnehmen?
Auf jeden Fall eine entschleunigende Haltung, gesteigerte Hektik ist nicht gut. Und dazu gehört auch Gelassenheit und Humor. Wir müssen neue Wege in der Seelsorge suchen und gehen, aber wir müssen den Menschen auch Halt und Stabilität geben. Entschleunigung hilft dabei. Momentane Spots befriedigen nur eine Neugier-Kultur und sind zu wenig substanziell.
Wie sieht denn der entschleunigte Alltag eines emeritierten Erzbischofs aus?
So wie der eines interessierten Rentners. Der Alltag startet so wie früher. Wenn ich zu Hause bin, feiere ich in unserer Hauskapelle die Messe. Ich bekomme Besuch und besuche viele Menschen. Es gibt eine Menge Freizeit. Ich schätze die Kultur, ich besuche gerne Konzerte, ich gehe gerne in die Natur und ich liebe auch die Stille. Lesestoff habe ich genug.
Dem Schöpfer vertrauen
„So lange will ich auf keinen Fall auf dieser Erde wandern. Aber ich hoffe, dass sich noch einige Wege eröffnen und ich um Erfahrungen reicher werde. Ich weiß um die Einschränkungen, die der älter werdende Mensch verkraften muss. Der Preis für ein langes Leben ist manchmal ein sehr hoher. Die Bemessung der vor mir liegenden Zeit überlasse ich gerne meinem Schöpfer.“
Erzbischof em. Hans-Josef Becker

Werden Sie viel eingespannt?
Das hält sich in gutem Maße, die Bistumsleitung nimmt Rücksicht. Ich werde beteiligt, ich wohne ja in der Stadt und bin nicht isoliert, es gibt immer wieder Kontakte, auch Meinungsaustausch. Ich fühle mich so sehr wohl, ich helfe und das auch gerne.
Haben Sie sich noch etwas vorgenommen…
…für die Restzeit meines Lebens?
Für die nächsten 25 Jahre?
So lange will ich auf keinen Fall auf dieser Erde wandern. Aber ich hoffe, dass sich noch einige Wege eröffnen und ich um Erfahrungen reicher werde. Ich weiß um die Einschränkungen, die der älter werdende Mensch verkraften muss. Der Preis für ein langes Leben ist manchmal ein sehr hoher. Die Bemessung der vor mir liegenden Zeit überlasse ich gerne meinem Schöpfer.
Vielen Dank für das Gespräch.