Ulrich Martinschledde ist Gemeindereferent im Pastoralen Raum Wittekindsland und hat die Aktion gegen Einsamkeit an Heiligabend gegründet.
In der Vorweihnachtszeit dominiert in den Medien ein Motiv: Bei Kerzenschein und mit strahlendem Lächeln versammelt sich die Großfamilie um Tannenbaum oder Esstisch und feiert gemeinsam Heiligabend. Das Fest gilt als das Familienereignis schlechthin. Doch wo bleiben die, die niemanden haben, mit dem sie den Abend verbringen können? Inmitten des medial inszenierten Familienidylls geht das Thema Einsamkeit an Heiligabend oftmals unter. Einer, der dieses Problem im Blick hat – und etwas dagegen tut – ist Ulrich Martinschledde, Gemeindereferent im Pastoralen Raum Wittekindsland. Im Interview spricht er darüber, wie durch die Aktion „Heiligabend nicht allein!“ im Gemeindehaus der Pfarrei St. Joseph in Bünde aus Fremden eine Familie für einen Abend wird.
Herr Martinschledde, „Heiligabend nicht allein!“ – wie kam es dazu?
Vor 16 Jahren haben wir einen Mittagstisch gegründet. Dreimal die Woche bieten wir Bedürftigen eine warme Mahlzeit für einen Euro an. Nach ein paar Monaten hat sich eine Frau bei mir gemeldet, die bei uns in der Küche helfen wollte – aber am Heiligen Abend. An dem Tag war jedoch gar kein Mittagstisch geplant. Schließlich stecken da alle in ihren eigenen Bezügen.
Ulrich Martinschledde ist Gemeindereferent im Pastoralen Raum Wittekindsland und hat die Aktion gegen Einsamkeit an Heiligabend gegründet.
Wie ist es dennoch zu der Aktion gekommen?
Beim Mittagstisch hat sich schnell herausgestellt, dass nicht nur die ursprünglich angepeilte Zielgruppe kam. Es gab auch Menschen, die sagten: „Meine Kinder sind weit weg und ich kenne niemanden mehr im Haus, bei euch habe ich wenigstens dreimal in der Woche Gesellschaft.“ Wir stellten fest: Auch Einsamkeit ist eine Form von Bedürftigkeit. Deshalb ging mir die Idee nicht mehr aus dem Kopf, in unserem Gemeindehaus mit Menschen Heiligabend zu begehen, die sonst allein wären.
Was sagte Ihre Familie dazu?
Die Familie musste zustimmen, sonst hätte ich das nicht gemacht. Wir waren mit dem Thema Heiligabend schon in den Jahren zuvor kreativer umgegangen. Ein wesentlicher Punkt war für uns aber das Beisammensein als Familie und das gemeinsame Essen. Und so war auch die Frage unserer Kinder: „Was wird dann mit dem Fondue-Essen?“ Das haben wir auf den ersten Weihnachtstag verlegt und zum ersten Mal „Heiligabend nicht allein“ mit der ganzen Familie angeboten.
Die Aktion war anfangs also ein Familienprojekt?
Ja. Auch weil wir natürlich nicht wissen konnten, dass das über 15 Jahre hinweg laufen würde. (lacht) An diesem ersten Heiligabend hatten wir gut 20 Leute aus unserer Mittagstischgemeinde da.
Wer hilft Ihnen heute bei der Organisation?
Meine Frau und ich machen viel, aber wenn 60 Leute zu versorgen sind, braucht es ehrenamtlich Helfende. Ich habe kein festes Team, die Kontakte ergeben sich im Laufe des Jahres. Menschen können mich dafür einfach ansprechen. Einsamkeit ist übrigens auch für ehrenamtliche Mitarbeitende ein Thema und bei vielen Motivation für ihr Engagement.
„Durch gemeinsames Essen wächst eine Gruppe zusammen. Das ist wichtig.“
Gemeindereferent Ulrich Martinschledde
Wie läuft so ein Heiliger Abend bei Ihnen im Gemeindehaus ab?
Die Menschen, die dorthin kommen, bringen alle ihre ganz eigenen Sorgen mit. Die gilt es symbolisch abzulegen. Also beginnen wir mit einem Ritual: Beim ersten Mal hatten wir einen leeren Tannenbaum im Saal stehen und haben da Christbaumkugeln drangehängt – als Symbol für die Sorgen der Menschen. Mal haben wir die Sorgen als kleine Geschenke in die Krippe gelegt oder auf Zettel geschrieben und in den Papierkorb geworfen.
Was passiert als nächstes?
Durch gemeinsames Essen wächst eine Gruppe zusammen. Das ist wichtig. Meine Frau und ich organisieren dafür ein Buffet. Die Salate machen wir selbst, andere Dinge bestellen wir. Einmal rief kurz vor Heiligabend eine Gaststätte bei uns an, der kurzfristig eine Feier abgesagt worden war: „Wir haben hier sechs dicke Braten – können Sie die gebrauchen?“ Konnten wir natürlich und so hatten wir an Heiligabend richtigen Weihnachtsbraten.
Wie geht es nach dem Essen weiter?
Wir haben kein strammes Programm. Nach dem Essen sollen die Leute Zeit haben, herumzugehen, miteinander zu plauschen. Irgendwann kommen alle zusammen – auch die, die am Kicker stehen – und wir lesen eine Geschichte vor und singen Weihnachtslieder. Vor zwei Jahren kam zufällig ein Leierkastenmann vorbei, sodass wir die Lieder vom Leierkasten begleitet gesungen haben.
Wenn Sie die letzten Jahre betrachten: Wer kommt zu Ihrem Heiligen Abend?
Definitiv nicht nur die, die wir vom Mittagstisch kennen. Oft melden sich Menschen, die im Laufe des Jahres einen Angehörigen verloren haben. Eine typische Aussage wäre etwa: „Ich habe meine Mutter gepflegt und wir haben zusammen Weihnachten gefeiert. Jetzt ist sie nicht mehr da und ich weiß nicht, wie ich das Fest ohne sie durchstehen soll.“ Es melden sich ältere Paare, die sagen: „Wir sind zwar nicht alleinstehend, aber unsere Kinder sind aus dem Haus.“ Die suchen Gesellschaft. Neulich hat sich eine junge alleinerziehende Frau gemeldet: „Ich würde gerne mit meinen beiden Töchtern und meinem neuen Partner kommen, weil unsere Wohnung einfach zu eng ist.“
Die Menschen, die zu „Heiligabend nicht allein!“ kämen, seien eine Zufallsgemeinschaft wie die Hirten, die vor 2000 Jahren zufällig in der Nähe des Stalls waren, sagt Gemeindereferent Ulrich Martinschledde.
Es ist also ein bunt zusammengewürfelter Haufen?
Es ist wirklich eine Durchmischung, was die gesellschaftlichen Milieus angeht. Der Mann mit Doktortitel und in ehemals leitender Position sitzt da neben einer Person mit Messie-Syndrom, in deren Wohnung sich die Dinge bis zur Decke stapeln. Ich vergleiche die Gruppe ganz gerne mit den Hirten aus dem Lukasevangelium. Das war damals schließlich auch eine Zufallsgemeinschaft: Die Heilige Familie im Stall und die Hirten, die in der Nähe waren.
Und wie kommt so eine Zufallsgemeinschaft miteinander ins Gespräch?
Das entsteht ganz von allein in den Tischgemeinschaften. Die Menschen bleiben nicht stumm. Viele haben – so mein Eindruck – ein Redebedürfnis. Weil sie sonst wenig Menschen haben, mit denen sie sich austauschen können. Sie sind dankbar, wenn sie jemandem ihre Geschichte erzählen können. An der Stelle kommen auch wieder die Sorgen hoch, die wir vorher abgelegt hatten. Aber das gehört dazu. Am Ende liegen sich auch nicht alle beim Rausgehen in den Armen, aber für den Abend war es gut.
Wie lange dauert Ihre Aktion am Heiligen Abend?
In den letzten Jahren war es immer so, dass unsere Aktion von 19.00 Uhr bis 22.00 Uhr ging. Also genau die Zeit, die man sonst im Kreise der Familie verbracht hätte. Kurz vor Schluss verabschieden sich die, die in die Christmette wollen. Das sind meist Leute, die man sonst nicht im Gemeindegottesdienst sieht. Aber an Heiligabend gehört das für sie dazu.
Hat Ihre Aktion also auch einen missionarischen Aspekt?
Man muss nicht fromm sein, um zu uns zu kommen. Wir nehmen die Menschen so, wie sie sind, mit ihren ganz eigenen Bedürftigkeiten. Doch Gott spielt an dem Abend eine Rolle. In der Mitte steht immer eine Krippe und auch für die, die nicht glauben, ist es okay, wenn wir ein Gebet sprechen.
„Kurz vor Schluss verabschieden sich die, die in die Christmette wollen. Die gehen dann hoch in die Kirche St. Joseph. Das sind meist Leute, die man sonst nicht im Gemeindegottesdienst sieht. Aber an Heiligabend gehört das für sie dazu.“
Gemeindereferent Ulrich Martinschledde
Was inspiriert Sie, diese Aktion immer wieder zu organisieren?
Jesus Christus hat mit Menschen gegessen. Durch seine Gegenwart und das gemeinsame Essen haben sie sich verändert. Und Veränderung sehe ich auch bei unseren Gästen: Zu unserem Mittagstisch kamen zwei alkoholabhängige Männer. Normalerweise ziemlich „abgerockt“, erinnerten sie sich kurz vor Heiligabend an den Windsorknoten und erschienen im Anzug. Sie waren an Heiligabend andere Menschen. Weil wir ihnen ein gesellschaftliches Ereignis boten. Aber eben eines mit christlichem Kern. Das war ihnen bewusst.
Letztes Jahr musste Ihre Aktion ausfallen, wie wird es 2021?
Wir werden wohl mit mehr Abstand sitzen, es wird 2G+ gelten. Ich habe einen Arzt gebeten, vormittags ein Testzentrum im Gemeindehaus aufzumachen, damit sich unsere Gäste testen lassen können. Wir tun alles, damit Heiligabend niemand allein bleiben muss.
Es sind erschreckende Zahlen: Einer Studie der EU-Kommission zufolge hat sich das Einsamkeitsgefühl der Menschen während der Corona-Pandemie europaweit verstärkt. Gaben 2016 rund zwölf Prozent der EU-Bürger und neun Prozent der Deutschen an, sich mehr als die Hälfte der Zeit einsam zu fühlen, stieg die Zahl 2020 auf 25 Prozent! Das heißt, jede vierte Person in Deutschland ist einsam.
Dabei sind nicht nur Ältere betroffen. Einsamkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem – unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft. Dabei reichen oft nur kleine Gesten, indem man seinem Gegenüber ein Lächeln, ein freundliches Wort, ein offenes Ohr, etwas Zeit oder – ganz einfach – Hoffnung schenkt.
Mit der Initiative #jetzthoffnungschenken wollen die katholischen Bistümer, Hilfswerke, Verbände und Orden zusammen mit dem Katholischen Medienhaus in Bonn genau das im Advent 2021 tun. Auf der Website der Aktion finden Sie Tipps zum Umgang mit Einsamkeit und Geschichten, die Hoffnung schenken: