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Ganz großes Kino

In der Heilig-Geist-Kirche in Lemgo spielt seit 2023 eine Kinoorgel. Mit seinem Klang und seinen Möglichkeiten hat das Instrument seither die Liturgie und die Pastoral verändert und bereichert. Am 8. November 2024 gibt es ein besonderes Konzert.

Kinoorgel? Was ist das? Diese Frage hat Gregor Schwarz, Kirchenmusiker im Pastoralverbund Lippe-Detmold, schon oft gehört. Und ebenso geduldig beantwortet er sie: „Die Kinoorgel stammt aus den Zeiten des Stummfilms. Wobei der eigentlich niemals stumm war. Schon als die Bilder laufen lernten, war so gut wie jeder Film musikalisch untermalt.“ Versuche, die Filmmusik mit einem Grammophon einzuspielen, waren zum Scheitern verurteilt, weil es fast unmöglich war, die Musik synchron über die Filmhandlung zu legen.

Die einfacheren Kinos hatten daher Pianos und in den größeren Sälen waren Kinoorgeln aufgestellt. „Zum Teil gab es geschriebene Filmmusik, zum Teil war die Begleitmusik improvisiert“, weiß Gregor Schwarz, der sich mit großer Begeisterung für alles interessiert, was Stummfilme und Filmmusik anbelangt. Dass in der Heilig-Geist-Kirche in Lemgo seit 2023 eine historische Kinoorgel spielt, ist auf eben diesen Enthusiasmus zurückzuführen. „Wir haben sehr viel Orgel für wenig Geld bekommen“, erklärt Gregor Schwarz. „Außerdem eröffnen wir uns damit neue Möglichkeiten in Liturgie und Pastoral.“

Wurlitzer Style D von 1924

Als um das Jahr 1940 der Tonfilm den Stummfilm weitestgehend verdrängt hatte, wurden Abertausende Kinoorgeln auf der ganzen Welt arbeitslos. In Deutschland sind nur zwölf erhaltene Instrumente bekannt. Ein einziges davon, die Orgel im Babylon-Kino in Berlin, ist noch an seinem originalen Aufstellungsort zu finden. Zehn weitere Instrumente haben Unterschlupf in Museen und Sammlungen gefunden. Die Kinoorgel in der Heilig-Geist-Kirche in Lemgo ist deutschlandweit die einzige Kinoorgel in einer Kirche. Eine evangelische Kirche plant derzeit die Aufstellung einer weiteren Kinoorgel. „Aber auch danach werden wir einzigartig sein“, verspricht Kirchenmusiker Gregor Schwarz. „Wir haben dann eben die erste Kinoorgel in einer Kirche in Deutschland und die einzige in einer katholischen Kirche.“

Bei der Kinoorgel in der Heilig-Geist-Kirche handelt es sich um eine „Style D“ aus dem Jahr 1924. Hersteller war die US-Amerikanische Firma Wurlitzer, die besonders für ihre farbenfrohen Jukeboxen im stylischen Art Deco bekannt ist. Interessanterweise bespielte die Lemgoer Kinoorgel niemals ein Kino, auch wenn sie ursprünglich in Los Angeles, der Welthauptstadt des Kinos, und dort in der Nähe des Hollywood Boulevards aufgestellt war. Bestellt hatte das Instrument das „Pig’n Whistle“, ein Großrestaurant, das für seine günstigen Mahlzeiten bekannt war und damit wohl eher Komparsen und Bühnenarbeiter als die großen Filmstars anlockte. Aber wer weiß schon, ob nicht auch Greta Garbo oder Marlene Dietrich in einer Drehpause während des Essens der Orgelmusik lauschten.

Konzerte und Veranstaltungen in Heilig Geist in Lemgo

Freitag, 8. November, 19.30 Uhr

Stummfilm „Die Stadt ohne Juden“ mit Livemusik
Ein Film als Zeichen und als Warnung gegen Fanatismus, Unmenschlichkeit und Intoleranz
Prof. Tomasz Nowak, Wurlitzerorgel

 

Sonntag, 10. November, 11.00 Uhr

Hl. Messe, mit „Gedenkmusik“
Orgelmusik von J. Brahms u. a.
Gregor Schwarz, Wurlitzerorgel

 

Samstag, 14. Dezember, 19.30 Uhr, (3. Advent)

Adventskonzert
Vorweihnachtliche Musik zum Zuhören und Mitsingen
am Wurlitzerflügel und an der Wurlitzerorgel
Pia Bössenkamp, Sopran

Odyssee einer Orgel

Im Jahr 1940 war dank der Radiomusik auch die Zeit der Kinoorgel im Restaurant abgelaufen. Die Orgel wurde aber nicht verschrottet, vielmehr erwarb Dr. Howard C. Stocker, ein Stammgast des Restaurants, das gute Stück für seinen Privatgebrauch. Als Stocker 53 Jahre nach dem Kauf starb, reichten die Erben die Orgel an einen Kinoorgel-Enthusiasten nach Celle weiter. Der hatte sich schon lange Zeit nach der Rarität gesehnt, mittlerweile aber ein noch größeres Instrument ausfindig gemacht und zugeschlagen.

Die „Style D“ kam daraufhin in die Hände des Orgelbauers Friedhelm Fleiter in Münster, der das Instrument bis zu seinem Ruhestand zu seinem Privatvergnügen hegte und pflegte. Dann endlich war 2023 die Zeit reif, dass die Orgel in der Heilig-Geist-Kirche in Lemgo ein neues Zuhause fand. Dort spielte seit Erbauung der Kirche eine Elektroorgel, obwohl rein elektrische Instrumente im kirchlichen Umfeld nicht erwünscht und zeitweise sogar verboten waren. Die elektrische Orgel in Lemgo war zwar ein recht verlässliches Instrument, aber weit davon entfernt, Begeisterungsstürme auszulösen. Und mit der Barockorgel in der evangelischen Kirche konnte sie natürlich in keinem Belang mithalten.

Die Fachwelt ist aus dem Häuschen!

Ganz anders aber die Wurlitzer. Mit ihrem Aufbau überschlug sich die Fachwelt der modernen Orgelmusik. Lange und hochkluge Artikel wurden geschrieben, in der Neuen Musikzeitung nmz oder in der „Musica Sacra“ (Beitrag nicht online vorhanden). Auch das Portal katholisch.de und das Domradio berichteten. Jüngst widmete sogar der WDR der Kinoorgel in der Kirche ein kurzes Radiostück und natürlich gab es Berichterstattung in der Lokalpresse. So verabschiedeten die Westfälischen Nachrichten aus Münster etwa die Orgel mit einem großen Beitrag.

Der Medienrummel um die Wurlitzer kommt nicht von ungefähr. Denn ähnlich breit wie das Medieninteresse sind die Einsatzmöglichkeiten der Kinoorgel. Dank technischer Finessen verfügt sie bei nur sechs Pfeifenreihen über mehr als 50 Register, also Klangfarben. Zusätzlich lassen sich vom Orgeltisch aus allerlei Percussioninstrumente und Glockenspiele ansteuern. Die Wurlitzer ist sogar imstande, Töne von Türklingeln, Autohupen und Pfeifen oder ein Pferdegetrappel zu imitieren. Um die passende Geräuschkulisse zu einem Stummfilm-Western zu erzeugen, ist letzteres für eine Kinoorgel sicher eine nützliche Funktion.

Kinosaal und Kirche

Aber passen derart profane Töne in ein kirchliches Umfeld? Das kommt natürlich auf den Anlass an. Im Trauergottesdienst sicher nicht, dafür aber bei vielen anderen Gelegenheiten. Für ein Projekt hat Gregor Schwarz die Kinderbilder, die während der Vorbereitung auf die Erstkommunion entstanden sind, musikalisch untermalt. Das enge Zusammenwirken von Musik und Bild gehört dabei zum künstlerischen Gesamtkonzept. Seit der Aufstellung der Orgel verfügt Heilig Geist in Lemgo über eine Leinwand für Bild- und Filmprojektionen. Die Kirche ist demnach seit 2023 ein Kinosaal mit 350 Plätzen, wobei Kirchenmusiker Gregor Schwarz auf zwei wichtige Dinge verweist: Zum einen findet in der Kirche kein kommerzieller Filmbetrieb statt, vielmehr haben die Darbietungen sakralen Charakter. So gibt es beispielsweise im Mai zu Marienmusik die Einblendung diverser Marienfiguren aus dem Pastoralverbund. Zum anderen, so Schwarz, sei die Orgel auch ohne begleitende Bildeffekte imstande, Menschen zu faszinieren.

Kinder, denen sich die Klangwelt der Orgel sofort und intuitiv erschließt, zählen zu den allergrößten Fans der Wurlitzer. Das zeigt: Die Kinoorgel in Heilig Geist ist kein elitäres Projekt, das sich ausschließlich an ein cineastisch interessiertes Publikum wendet. „Angesprochen werden in erster Linie alle, die den Gottesdienst besuchen“, berichtet Kirchenmusiker Gregor Schwarz. „Darüber hinaus erreichen wir mit der Wurlitzer auch Menschen, für die der Kulturgenuss im Vordergrund steht.“ Schon im Umfeld der Orgelweihe an Pfingsten 2023 ließ Gregor Schwarz zwei kurze Stummfilme der deutschen Filmpionierin Lotte Reiniger in der Kirche aufführen und konnte damit und mit der musikalischen Untermalung Menschen aus allen Gegenden Deutschlands und aus vielen Milieus begeistern.

Besonderes Konzert am 8. November 2024

Jetzt aber genug der Worte. Wann endlich fängt die Musik an? Auf YouTube gibt es ein kleines Klangbeispiel, das den Funktionsreichtum und Klangumfang der Orgel aber nicht einmal ansatzweise wiedergibt. Alle Register werden dafür bei den Orgelkonzerten gezogen. Das nächste filmische Orgelkonzert in Heilig Geist findet am 8. November 2024 um 19.30 Uhr statt. In Erinnerung an die Reichspogromnacht am 9. November 1938 wird der prophetische Stummfilm „Die Stadt ohne Juden“ von Hans Karl Breslauer aus dem Jahr 1924 gezeigt. An der Orgel sitzt Tomasz Adam Nowak aus Münster. Alle sind herzlich eingeladen. Eine Anmeldung ist nicht vonnöten, der Eintritt ist frei, eine Spende wird erbeten und höchster Kunstgenuss ist garantiert!

Ein Beitrag von:
© Jürgen Hinterleithner
freier Autor

Hans Pöllmann

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