Die Bibel erzählt, wie Menschen von überall her zu Johannes dem Täufer strömten, um sich von ihm taufen zu lassen – und zwar im Jordan. Einer von ihnen war Jesus von Nazareth. Auch er wollte sich von Johannes taufen lassen. So stellte er sich unauffällig in die Reihe der vielen Menschen, die dem Aufruf des Johannes gefolgt waren: „Kehrt um!“ Ja, die Menschen waren gekommen, um Buße zu tun. Sie wollten bekennen, dass sie Sünder sind und hatten sich aufgemacht, ein Zeichen der Umkehr zu setzen. Und das Zeichen dafür war, in den Jordan zu treten, in ihm einzutauchen und am anderen Ufer wieder aus ihm herauszusteigen. So stelle ich mir das jedenfalls vor. Die Menschen damals, so die Bibel, wollten sozusagen alle Schuld und jeden Makel abwaschen. Sie wollten „clean“ werden am Jordan und damit bereit für einen Neuanfang, gerade dann, wenn etwas so richtig schief gelaufen war in ihrem Leben. Aber im Blick auf Jesus stelle ich mir schon die Frage: Hatte er als Sohn Gottes so etwas überhaupt nötig? Schließlich nennt ihn die Bibel doch auch das „Lamm ohne Makel“ (1 Petr 1,19) und gilt er doch als „den Menschen gleich – außer der Sünde“ (vgl. Hebr 4,15).
Eine Antwort finde ich bei der Betrachtung alter Ikonen aus der Ostkirche, die die Taufe Jesu im Jordan abbilden. Auf einer dieser Ikonen steht Jesus im Wasser, und dort, im Jordan, tummeln sich die Fische und ein Seedrache. Die Ikone wird so gedeutet: Jesus taucht ein in den Jordan, nicht um sich zu reinigen und um frei von Sünden zu werden, sondern er taucht ein in den Jordan, um damit die ganze Welt, die ganze Schöpfung heil und gut zu machen. Und das im umfassenden Sinne, bis heute: Jesus taucht ein in diese unsere konkrete Welt bis heute. In eine Welt, die dabei ist, über den Jordan zu gehen, weil Kriege, Terror, Umweltzerstörung, Korruption, Habgier, Neid und Machthunger dabei sind, alles in der menschlichen Zivilisation Erreichte in Gefahr zu bringen oder sogar ins Verderben zu ziehen. Die alte Ikone zeigt mir: Für die Welt, für die Menschen, für Sie, für mich geht Jesus in der Taufe in und durch, ja, über den Jordan, damit wir nicht zu Grunde gehen, will heißen, damit wir nicht „über den Jordan gehen“. Ich sehe einen Anhaltspunkt für diese umfassende, heilbringende Tat Jesu in einem Detail auf der Ikone: Sie zeigt Jesus nur mit einem Lendenschurz bekleidet, genauso wie er später am Kreuz hängen wird. Dort geht Jesus dann endgültig über den Jordan. Denn sein Weg verläuft von der Krippe über den Jordan geradewegs zum Tod am Kreuz. Das ist seine Bestimmung. Mehr noch: Das ist der Plan Gottes mit seinem Sohn.
Das Fest der „Taufe des Herrn“ wird übrigens in den orthodoxen Kirchen auch „Theophanie“ genannt, zu Deutsch: „Fest der Erscheinung Gottes“ – will sagen: Gott erscheint, um die Welt und damit jeden Menschen heil zu machen.