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© Ink Drop / Shutterstock.com

Nie wieder ist jetzt

Die Grundschule Dinschede in Arnsberg-Oeventrop, eine städtische katholische Bekenntnisgrundschule, hat ein beeindruckendes Toleranzprojekt auf die Beine gestellt – politische Bildung in der vierten Klasse funktioniert!

Es ist der 16. Oktober 2023, Montagmorgen, der erste Schultag nach den Herbstferien, der erste Schultag nach dem mörderischen Terroranschlag der Hamas auf Israel. Nach und nach füllt sich die Grundschule Dinschede in Arnsberg-Oeventrop. Die Kinder in den Klassenzimmern reden durcheinander über das, was sie davon in den Ferien in den Fernsehnachrichten, im Internet und aus den Gesprächen der Erwachsenen mitbekommen haben. Genau dieselben Fragen kursieren im Lehrkräftezimmer. Hast du die Bilder vom Festival gesehen? Wie konnte das nur geschehen? Ob die verschleppte Shani Louk noch lebt? Nur in einem unterscheidet sich die Fragestellung von Kindern und Erwachsenen. Die Lehrkräfte fragen sich auch, was von den schrecklichen Bildern die Schulkinder mitbekommen haben. Und sie stellen sich die Frage, wie mit der Situation umzugehen ist, als Schulgemeinschaft und im Unterricht.

Die Antwort darauf lautet: möglichst offen, im Unterricht, unverzüglich, in der ersten Schulstunde, gleich nach dem Gong. Der beste pädagogische Ansatz ist in diesem Fall, die Kinder erzählen zu lassen und als Lehrkraft nur einzugreifen, wenn eine Fehlinformation berichtigt oder eine Darstellung für das bessere Verständnis um einen wesentlichen Aspekt ergänzt werden muss. Bald beginnen die Kinder, Fragen zu stellen, die der Einordnung dienen: Was sind eigentlich Juden? Sind Judentum und Israel dasselbe? Warum gibt es Streit zwischen Israel und den Palästinensern? Wer ist Hamas? Warum leben die Palästinenser im Gaza-Streifen und im Westjordanland? Was ist Antisemitismus? Gibt es Antisemitismus auch bei uns? Was ist Nationalsozialismus? Was ist ein Konzentrationslager? Warum wurden dort so viele Menschen ermordet?

Ein Projekt muss her

Die Lehrkräfte geben Antwort, so gut sie können, stoßen aber in ihrer politischen und geschichtlichen Bildung bald an Grenzen. Und: Selten zuvor sahen die Lehrkräfte die Kinder derart konzentriert bei der Sache. Ausnahmslos alle. Selbst der notorische Klassenkasper und die Quatschmacherin verstehen, dass es hier um etwas grundlegend Wichtiges geht, und verhalten sich entsprechend.

Schnell wird den Lehrkräften klar, dass sich diese Fragen nicht an einem Vormittag beantworten lassen. Sondern dass dafür ein umfassendes Projekt aufgesetzt werden muss. Ein Projekt, das am besten in der vierten Klasse verortet wird, bei den Neun- und Zehnjährigen, die schon wissen, was in der Welt vor sich geht. Ein Projekt, das in der Geschichte weit zurückgeht, wenigstens bis in die Zeit des Nationalsozialismus, wenn nicht gar bis zu den Judenverfolgungen des Mittelalters oder noch weiter, zur jüdischen Diaspora nach dem jüdischen Krieg im Jahr 70 nach Christus. Ein Projekt, das sich nicht nur mit Antisemitismus befassen darf, sondern das Rassismus und Menschenfeindlichkeit in allen Belangen und Ausprägungen thematisiert. Und zuletzt darf das Projekt nicht darin steckenbleiben, nur die Probleme aufzuzeigen. Es muss auch zu Lösungen kommen, im Idealfall in Form von erlebter Selbstwirksamkeit. Kurzum: Ein von den Kindern selbst getragenes Demokratisierungs- und Toleranzprojekt muss her.

Kinder unterm Hakenkreuz

In der Folgezeit bearbeiten die Kinder in Gruppen unterschiedliche Themen und stellen sich diese gegenseitig vor. Sie sehen sich gemeinsam im Unterricht Videos aus den Kindernachrichten „logo!“ an und lesen Infotexte aus verschiedenen Quellen.

Inhaltlich geht die Auseinandersetzung zurück bis in die Zeit des Nationalsozialismus. Die Kinder erfahren anhand von Geschichten aus dem Buch „Kinder unterm Hakenkreuz“ von Frank Schwieger, was Begriffe wie „Judenboykott“ und „Pogromnacht“ bedeuten. Die Geschichten sprechen die Kinder auch emotional sehr an. Geschrieben ist das Buch aus Kindersicht, die im Buch vorgestellten Kinder gab es wirklich. Es ist keine leichte Lektüre, trotzdem fragen die Projektkinder ihre Lehrkräfte nach immer neuen Geschichten von ihren Altersgenossen im Nationalsozialismus.

Die Projektkinder schauen sich auch zwei Bilder aus Ludwig Hoppes Geschichtsheft für Kinder zur Oeventroper Ortsgeschichte an, das seit dem vergangenen Jahr alle Kinder im vierten Schuljahr im Sachunterricht bekommen. Auf der ersten Fotografie erkennt man schöne Häuser, die aussehen, wie Häuser halt früher so ausgesehen haben. Das zweite Bild zeigt diese Häuser erneut. Nur ist diesmal darauf zu erkennen, wie Fensterscheiben eingeschlagen und Möbel auf die Straße geworfen werden.

Die Nazis waren nicht irgendwo anders, sie waren hier

Dank ihrer Vorkenntnisse wissen die Kinder sofort: Hierbei handelt es sich um die Darstellung der Pogromnacht. Auf die Frage, wo sich das wohl abgespielt haben könnte, antworten die Kinder: Hannover, Berlin, München, Köln … irgendwo weit weg eben, in der Gesichtslosigkeit der großen Städte. Als sie erfahren, dass es Bilder aus Oeventrop sind, macht sie das im ersten Augenblick sprachlos. Dann: „Das war hier auch? Das hätte ich nicht gedacht!“ So spannt das Projekt den Bogen zur Oeventroper Ortsgeschichte und zum Hier und Jetzt. Weil: Was Menschen einmal getan haben, hier bei uns in Arnsberg, Oeventrop und Dinschede, das können Menschen wieder tun.

Jetzt wollen die Kinder noch mehr wissen und auf Exkursion gehen. Sie besuchen das Mahnmal in der Kirchstraße und sehen sich die Häuser an, in denen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger lebten und unter dem Nationalsozialismus litten. Auch künstlerisch setzen sich die Schülerinnen und Schüler mit der dunklen Seite der deutschen Geschichte auseinander. Im Kunstunterricht geben sie ihren Emotionen Ausdruck und malen mit dunklen Farben abstrakte Bilder.

Vom Wissen zum Handeln

Die Schulkinder haben mittlerweile im Projekt sehr viel gelernt und verstanden. Und je mehr sie wissen, desto größer wird ihr Wunsch, der Menschenfeindlichkeit etwas entgegenzusetzen. In der Schule diskutieren sie, was sie gegen Antisemitismus und gegen Rassismus tun können. Doch wir sind Neun- und Zehnjährige! Was können wir Kinder schon ausrichten, wenn es selbst die Erwachsenen nicht hinkriegen? Aber wir Kinder können doch etwas tun: Wir können andere davon abhalten, Menschenfeinde zu sein!

Deshalb sammeln die Projektkinder nun wichtige Begriffe: Toleranz, Zusammenhalt, Freiheit, Vielfalt, Mut, Liebe. Jedes Kind wählt sich einen Begriff aus, gestaltet die Buchstaben farbig auf Transparentpapier und klebt sie auf eine dunkle Leinwand.

Mit ihren Begriffen zeigen die Kinder, dass wir alle, Kinder oder Erwachsene, andere Menschen durch unser Tun, durch unsere Haltung verändern können. Zumindest müssen wir es immer wieder versuchen. Zu ihren Begriffen erstellen die Kinder kurze Texte. Sie sind klug geschrieben. Anders als viele Erwachsene treffen die Kinder beispielsweise keine Unterscheidung in nützliche und weniger nützliche Ausländerinnen und Ausländer. Was die Kinder schreiben, ist geprägt von einem humanen Universalismus, der sowohl das Grundgesetz als auch das christliche Menschenbild auszeichnet: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Oder, wie es der neunjährige Mats ausdrückt: „Alle Menschen sind gleich viel wert.“

Das Projekt läuft weiter

Projekte haben definitorisch einen Anfang und ein Ende. Das Toleranzprojekt an der Grundschule Dinschede läuft nun schon seit einigen Wochen, jeden Schultag, in der Regel vier Stunden pro Tag. Die Kinder machen eifrig mit, es geht voran. Bis zu den Weihnachtsferien, so der Plan, soll die intensive Auseinandersetzung mit Rassismus und Antisemitismus und die Entwicklung von Gegenstrategien abgeschlossen sein.

Dann aber kommt das Geheimtreffen Rechtsextremer in Potsdam ans Tageslicht. Ein Kind in der Klasse spricht das im Unterricht an. Zeitgleich findet eine Lehrkraft einen Artikel für Kinder in der Tageszeitung, die Überschrift lautet: „Remigration – Das Unwort des Jahres“. Im Unterricht nehmen die Projektkinder den Zeitungsbeitrag Satz für Satz auseinander. Schnell haben sie raus: Wenn diese angekündigten Maßnahmen passieren, sind Kinder aus unserer Schule, aus unserer Klasse betroffen. Es geht um uns.

Spätestens jetzt wird deutlich, dass das Toleranzprojekt nicht zwei Wochen dauert, sondern länger, vermutlich ein Leben lang. Demokratisierung ist wie ein Muskel, der trainiert werden muss, anderenfalls verkümmert er. Darum beteiligen sich jetzt viele Projektkinder zusammen mit ihren Eltern und Geschwisterkindern an den Mahnwachen für Frieden, Demokratie und Vielfalt in Oeventrop. Damit setzen sie einer wachsenden Menschenfeindlichkeit etwas sehr Wirkmächtiges entgegen: ihre politische Bildung und ihren Protest.

„Ich habe „Liebe“ genommen, weil das Gegenteil von Liebe ist ja Hass,
und wenn es nur Hass auf der Erde geben würde, dann wäre das keine schöne Welt.
Wir haben uns überlegt, wie die Welt richtig schön werden könnte.
Wenn es nur Liebe auf der Welt geben würde, gäbe es keinen Krieg.
Dann würde die Welt zusammenhalten und es würden alle in Frieden leben.“

Mia, 10 Jahre

„Genau dafür bin ich Lehrerin geworden“

Barbara Vielhaber-Hitzegrad ist Lehrerin an der städtischen katholischen Bekenntnisgrundschule Dinschede in Arnsberg-Oeventrop und eine der Initiatorinnen des Toleranzprojektes.

Redaktion

Frau Vielhaber-Hitzegrad, mit Ihrem Toleranz- und Demokratieprojekt exponieren Sie sich in der Öffentlichkeit. Rechtsextreme sind dafür bekannt, sich in die Opferrolle zu begeben. Klagen sie schon darüber, dass bei Ihnen an der Schule Kinder für den Kulturkampf von Links vereinnahmt werden?

Barbara Vielhaber-Hitzegrad

Auch wenn die Rechtsextremen überall starken Zulauf haben, hat uns bisher keine Reaktion aus dem rechtsextremen Spektrum erreicht. Dafür kamen aber viele positive Reaktionen seitens der Kinder selbst, seitens der Eltern, der Schulleitung und der Öffentlichkeit. Ich hoffe, das bleibt so.

Redaktion

Anlass für Ihr Projekt war der Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023, das größte Massaker an Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust. Auch mit dem Nationalsozialismus setzen Sie sich im Projekt intensiv auseinander. Kann man derart düsterste Dinge neun- und zehnjährigen Kindern zumuten?

Vielhaber-Hitzegrad

Ja, das kann man! Natürlich dürfen wir die Kinder nicht mit detaillierten Schilderungen von Gräueltaten konfrontieren. Aber Kinder verstehen sehr gut, was Demokratie bedeutet und was Menschenrechte sind – und was passiert, wenn es Menschenfeinden gelingt, Hass zu schüren und die Demokratie und die Menschenrechte außer Kraft zu setzen. Ich habe in meiner langen Laufbahn als Lehrerin noch keine Unterrichtsreihe erlebt, bei der alle Kinder durchgehend so interessiert und aufmerksam waren, sich eingebracht und Fragen gestellt haben – und zwar jede einzelne Minute. Wenn ich aus dem Buch „Kinder unterm Hakenkreuz“ von Frank Schwieger vorlese, wird es im Klassenzimmer mucksmäuschenstill. Unser Projekt verknüpft Schule mit dem Leben. Genau dafür bin ich Lehrerin geworden.

Redaktion

Wie wirkt Ihr Projekt?

Vielhaber-Hitzegrad

Bei dem Überfall der Hamas fühlten wir uns hilflos, die Kinder an unserer Schule genauso wie wir Lehrerinnen. Auch gegenüber dem zunehmenden Einfluss der neuen Rechten hier in Deutschland und gegenüber dem Antisemitismus und der Fremdenfeindlichkeit verspürten wir Ohnmachtsgefühle. Diese Ohnmacht weicht nun allmählich dem Gefühl, dass wir alle etwas für Toleranz, Vielfalt und Demokratie tun können, dass wir zum Beispiel verbal dazwischengehen können, wenn eine Person rassistisch beleidigt wird. Sogar im Schulalltag macht sich unser Projekt bemerkbar. Etwa bei Streitigkeiten auf dem Pausenhof, wenn die angegriffenen Kinder den Angreifern gegenüber erklären: „Im Toleranzprojekt hast du aber etwas anderes gelernt!“

Redaktion

Wie lässt sich Ihr Projekt verstetigen?

Vielhaber-Hitzegrad

Als städtische konfessionelle Schule lautet unser Auftrag, den Kindern demokratische Werte und ein christliches Menschenbild zu vermitteln. Unser aktuelles Toleranzprojekt erfährt durch die Beteiligung der Schulgemeinschaft an den Mahnwachen für Frieden, Demokratie und Vielfalt hier in Oeventrop eine Verstetigung. Zudem läuft unsere Bewerbung für die Auszeichnung als „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Damit verpflichten wir uns zu einem langfristigen und dauerhaften Engagement gegen Diskriminierung in jeder Form und gegen alle totalitären und demokratiefeindlichen Ideologien.

Redaktion

Vielen Dank für das Gespräch.

Ein Beitrag von:
© Jürgen Hinterleithner
freier Autor

Hans Pöllmann

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