Kein anderes Land sei „so kalt“ vom russischen Angriffskrieg auf die Ukraine erwischt worden wie Deutschland, erklärte Dr. Eckhart Lübkemeier, Botschafter a. D. und Gastwissenschaftler der Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin. „Der Schock traf nicht nur die Politik, sondern auch die Gesellschaft insgesamt.“ Nach dem Ende des Kalten Krieges habe man sich zu sehr auf die Stabilität der europäischen Friedensordnung verlassen. Die Vernachlässigung der zentralen sicherheitspolitischen Vorsorge durch die politische Führung finde ihren Ausdruck im skandalösen Zustand der Bundeswehr, erläuterte Dr. Lübkemeier in seinem Beitrag. Außenpolitisch sei bei den Bündnispartnern der NATO viel Kredit verspielt worden, weil die Verpflichtung, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, ignoriert wurde.
Landesverteidigung statt Interventionsarmee
Die Landes- und Bündnisverteidigung müsse wieder erste Aufgabe der Bundeswehr werden, forderte Dr. Lübkemeier. Dazu brauche es eine übergreifende Strategie. Erforderlich sei eine realistische Analyse der geopolitischen Lage. Deutschland profitiere sehr von der Globalisierung, aber schon die Corona-Pandemie mit den Störungen der Lieferketten habe gezeigt, wie verwundbar das deutsche Wirtschafts- und Geschäftsmodell ist, unterstrich der Wissenschaftler aus Berlin. Es gelte Abhängigkeiten abzubauen. Zugleich müsse man aus sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Gründen im Dialog und in Kooperation mit autoritären Regimen bleiben. China sei zu groß, um ignoriert zu werden, unterstrich der ehemalige Botschafter. Zur Lösung globaler Fragen – wie etwa dem Klimaschutz oder der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen – brauche man China.
Auch das 21. Jahrhundert werde von Kriegen gekennzeichnet sein, sagte Professor Dr. Patrick Sensburg, Rechtswissenschaftler der Hochschule für Polizei und Verwaltung NRW und Präsident des Verbandes der Reservisten der Bundeswehr. Die Annahme eines Jahrhunderts des Friedens sei illusorisch. Dies gelte auch für Europa. Professor Sensburg verwies in seinem Vortrag auf den „Jugoslawienkrieg“ und die immer noch angespannte Lage in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens. Kriege seien immer grausam für die Bevölkerung, wie aktuell der Ukrainekrieg auf erschreckende Weise zeige. Zur Friedensicherung brauche es auch die militärische Verteidigungsbereitschaft.
Eigenständige Sicherheitspolitik
Die beiden Referenten Dr. Lübkemeier und Professor Dr. Sensburg plädierten für eine eigenständige deutsche und europäische Sicherheitspolitik im Rahmen der NATO. Es sei in ihrer Sichtweise naiv, sich auf die Schutzmacht USA zu verlassen. Der Fokus der USA richte sich zunehmend auf die Konkurrenz und Einhegung Chinas. Zudem sei die innenpolitische Entwicklung der USA unsicher, etwa im Hinblick auf die Bereitschaft, sich weiterhin wie bisher im Ukrainekonflikt zu engagieren. Auch werde der deutsche Beitrag in der internationalen Friedenspolitik weiterhin gefordert sein. Hierzu gehöre auch zukünftig die Beteiligung der Bundeswehr an Friedensmissionen, auch wenn friedliche Kooperation die bessere Option sei.
Der Rückbau der Bundeswehr und die Aufgabe der Wehrpflicht hätten auch zu einem „freundlichen Desinteresse“ an der Bundeswehr als Verteidigungsarmee geführt, stellte Professor Sensburg fest. Es brauche einen Einstellungswandel in der Bevölkerung. Die Bundeswehr sei an vielen Orten verschwunden. Die wichtige Verwobenheit mit der Bevölkerung sei nicht mehr gegeben, so Professor Sensburg. Das Beispiel des Widerstands der Ukrainer gegen die russische Invasion zeige, wie wichtig neben der militärischen Abschreckung ein funktionierender Zivilschutz und Reservisten für das Durchhaltevermögen im Konfliktfall seien. Eine breite gesellschaftliche Akzeptanz der Bundeswehr sei dringend notwendig und zudem das Verständnis, wozu Deutschland eine Verteidigungsarmee brauchen: zur Sicherung von Freiheit, Menschenrechten und Demokratie. Professor Sensburg wünschte sich eine stärkere Beteiligung der Kirche in diesen Diskursen.