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Erzbistum Paderborn
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© PHOTOCREO Michal Bednarek / Shutterstock.com

Wege aus der Abhängigkeit

Selbst innerkirchlich wenig bekannt, ist der Kreuzbund als Fachverband der Caritas der größte deutsche Sucht-Selbsthilfeverband – in bundesweit 1.200 Gruppen finden Suchtkranke und ihre Angehörigen Hilfe und Unterstützung

In jedem Spielfilm, in jeder Vorabendserie, in jeder Doku dasselbe Bild. Geht es um Suchterkrankung, kommen medial stets die Anonymen Alkoholiker ins Spiel. Zu bildgewaltig und einprägsam sind anscheinend die dort gepflegten Rituale. Dabei gibt es mit dem Blauen Kreuz, den Guttemplern oder den Freundeskreisen etliche andere Sucht-Selbsthilfeinitiativen neben den Anonymen Alkoholikern. Der größte deutsche Sucht-Selbsthilfeverband ist allerdings der Kreuzbund, ein Fachverband der Caritas. Die Bundesgeschäftsstelle des Kreuzbundes befindet sich in Hamm, also auf dem Gebiet des Erzbistums Paderborn. Dem Bundesverband angegliedert sind 27 Diözesanverbände in den (Erz-)Diözesen der katholischen Kirche in Deutschland, die praktische Arbeit wird in 1.200 lokalen Selbsthilfegruppen des Kreuzbundes geleistet.

Eine Stadt von der Größe Arnsbergs

In Deutschland sind rund 1,6 Millionen Menschen alkoholabhängig. 7,9 Millionen Menschen haben einen gesundheitsschädlichen Alkoholkonsum, ohne abhängig zu sein. Jedes Jahr sind hierzulande mehr als 70.000 Todesfälle allein auf den Alkoholkonsum zurückzuführen. Dies entspricht in etwa der Bevölkerung der sauerländischen Stadt Arnsberg! Auch ist Alkoholabhängigkeit in jeder Altersgruppe und in jeder sozioökonomischen Schicht anzutreffen. Angesichts der Größe des Problems Alkoholismus lag das Hauptaugenmerk des Kreuzbundes früher daher auf Hilfen aus der Alkoholsucht, daneben widmete sich die Initiative auch in geringerem Umfang der Medikamentenabhängigkeit. Heute hat sich der Blick auf den zunehmenden Mischkonsum legaler und illegaler Drogen und die sich daraus ergebenden Mehrfachabhängigkeiten sowie auf nichtstoffliche Süchte wie die Spielsucht oder die Online-Sucht geweitet.

Unabhängig vom jeweiligen Suchtmittel stehen im Zentrum der Arbeit des Kreuzbundes das christliche Menschenbild und das Gebot der Nächstenliebe. Das bedeutet auch, dass alle suchterkrankten Personen und ihre Angehörigen, unabhängig von Religionszugehörigkeit und Weltanschauung, in den Selbsthilfegruppen willkommen sind und dass die Hilfe natürlich kostenlos erbracht wird.

Farbiger Abschnitt mit Überschrift

Alarmsignale für Angehörige

Ist ein Familienmitglied von einer Suchterkrankung betroffen, sind die Angehörigen ebenfalls belastet. Auch ihnen bietet der Kreuzbund Hilfe und Unterstützung an. Dabei ist die Suchterkrankung für Angehörige oft ähnlich mit Scham und Unsicherheit verbunden wie für die suchterkrankte Person selbst. Ein Schnell-Check gibt erste Orientierung:

  • Sie sind in Sorge um ein Familienmitglied, weil es häufig zu viel Alkohol, Medikamente oder andere Suchtmittel konsumiert oder weil bestimmte Verhaltensgewohnheiten außer Kontrolle geraten, etwa Glücksspiel, Social-Media-Nutzung oder Gaming?
  • Sie fühlen sich für die Suchterkrankung des Familienmitglieds mitverantwortlich und übernehmen viele seiner Aufgaben?
  • Sie kontrollieren das suchtkranke Familienmitglied und verstecken das Suchtmittel?
  • Sie schämen sich und verheimlichen das Suchtproblem?
  • Sie vernachlässigen Ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse?
  • Sie fühlen sich überlastet und hilflos?
  • Sie möchten Ihre Sorgen teilen und wünschen sich Entlastung?
Rufen diese Fragen bei Ihnen starke Zweifel hervor? Oder beantworten Sie eine oder mehrere Fragen mit einem klaren Ja? Dann sollten Sie sich an eine Selbsthilfegruppe des Kreuzbundes wenden.

Sich mit dem vollen Namen der Sucht stellen

Der Besuch einer Selbsthilfegruppe wird auch beim Kreuzbund auf Wunsch vertraulich behandelt. Aber anders als bei den Anonymen Alkoholikern, bei denen die Anonymität namensgebender und zwingender Bestandteil des Konzepts ist, gibt es beim Kreuzbund keine Selbstverpflichtung zur Anonymität. „Mir hat es sehr geholfen, meine Sucht als Teil meiner Person mit meinem Namen zu begreifen“, erklärt etwa Roland Männer, abstinenter Alkoholiker und ehrenamtlich im Kreuzbund engagiert, im nachfolgenden Interview. „Und nachdem ich den Alkoholmissbrauch erfolgreich bekämpft hatte, gab es für mich auch keinen Grund, mich länger für meine Sucht zu schämen. Im Gegenteil: Es war für mich wichtig, Gesicht zu zeigen.“

Kommt beim Kreuzbund vorbei!

Roland Männer plädiert aber nicht nur für einen offenen Umgang mit Suchterkrankungen, sondern auch dafür, innerhalb der kirchlichen Sozialarbeit dem Thema Sucht einen größeren Stellenwert einzuräumen: „Der Kreuzbund ist Teil der Kirche. Informiert euch, was Sucht bedeutet und was ihr dagegen tun könnt. Nicht auf dem Papier und im Internet, sondern in der Praxis. Kommt bei uns vorbei und schaut euch die Arbeit des Kreuzbundes an.“

Erst ein anderer Mensch durch den Alkohol, dann ein anderer Mensch durch die Abstinenz

Roland Männer, 68 und pensionierter Polizeibeamter, bezeichnet sich selbst als abstinenten Alkoholiker. In diesem Zustand befindet er sich seit über 30 Jahren. Im Interview spricht er über seinen Weg hinein in die Alkoholabhängigkeit und aus der Sucht heraus.

Redaktion

Herr Männer, wie sind Sie in die Alkoholsucht geraten?

Roland Männer

Schrittweise. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der es normal war, dass Jugendliche schon mit 13 oder 14 anfangen, Alkohol zu trinken, und in der das Bild von Männlichkeit mit Trinkfestigkeit verbunden war. Bei mir kam aber noch etwas anderes dazu: Ich wollte als junger Mensch mit allen auskommen und nirgendwo anecken und das gelang mir mit Alkohol besser als ohne. Also habe ich regelmäßig Bier getrunken. Auch in meinem beruflichen Umfeld, ich war Ausbilder bei der Polizei, war Alkoholkonsum damals etwas ganz Normales und keinesfalls ehrenrührig.

Redaktion

Wann fiel Ihnen auf, dass Ihr Alkoholkonsum bedenklich ist?

Männer

Mir selbst ist das gar nicht aufgefallen, ich wurde darauf angesprochen – erstmals, als ich 26 war. Ich habe daraufhin mein Verhalten hinterfragt und längere Trinkpausen eingelegt, mal 14 Tage, mal drei Wochen. Und als ich gemerkt hatte, dass ich die Pausen problemlos aushalte, lag für mich die Erklärung auf der Hand: Du hast kein Alkoholproblem, also kannst du bedenkenlos weitersaufen. Aber das war ein Irrtum. Es wurde immer schlimmer mit dem Trinken.

Redaktion

Wie schlimm?

 

Männer

Sehr. Zehn Jahre später, auf dem Höhepunkt der Trinkerei, war ich vormittags schon beim fünften Bier und konnte meinen Bierkonsum den ganzen Tag über nicht mehr zählen. Außerdem hat mir Bier nicht mehr gereicht. Ich habe zusätzlich Schnaps getrunken, den ich vor den anderen versteckt habe. Ich habe mir auch für mein Umfeld Tarngeschichten ausgedacht, um meine Alkoholsucht zu verstecken. Das alles, die allmähliche Erhöhung der Dosis, das Versteckspiel, die Scham, das ist typisch für Suchterkrankungen. Dabei konnte ich immer eine bürgerliche Fassade aufrechterhalten.

Das alles, die allmähliche Erhöhung der Dosis, das Versteckspiel, die Scham, das ist typisch für Suchterkrankungen.

Roland Männer
Redaktion

Wie gelang Ihnen der Weg aus der Sucht?

Männer

Zum einen hat meine damalige Frau wegen meiner Sucht Druck auf mich ausgeübt, wollte die Trennung. Und zum anderen war auch mir klar, dass mein Schnaps-Verstecken ein Zeichen für eine Suchterkrankung ist. Schnaps-Verstecken, das kann nicht sein, habe ich mir gedacht, das lässt sich nicht mehr wegleugnen. Deshalb habe ich mich damals einem Kollegen geöffnet, von dem ich wusste, dass er trockener Alkoholiker ist. Ich habe so getan, als wollte ich mit ihm allgemein über das Thema Sucht sprechen. Der Kollege hat mich natürlich sofort durchschaut und mich zu seinem Arzt zur Untersuchung geschleppt und mich nach meiner stationären Therapie auch zum Kreuzbund mitgenommen. Das war Zufall. Wäre der Kollege damals mit mir zu einer anderen Sucht-Selbsthilfe gegangen, wäre ich dort gelandet. Ich habe aber gemerkt, dass ich beim Kreuzbund gut aufgehoben bin.

Redaktion

Inwiefern beim Kreuzbund gut aufgehoben?

Männer

Bei den Anonymen Alkoholikern beispielsweise gehört, wie der Name schon sagt, die Anonymität zum Konzept. Für viele Suchtkranke ist Anonymität genau das Richtige, aber mir hat es geholfen, meine Sucht als Teil meiner Person mit meinem Namen zu begreifen. Und nachdem ich den Alkoholmissbrauch erfolgreich bekämpft hatte, gab es für mich auch keinen Grund, mich länger für meine Sucht zu schämen. Im Gegenteil: Es ist für mich wichtig, Gesicht zu zeigen. Zudem habe ich den Eindruck, dass die Treffen beim Kreuzbund von intensiven und mitunter auch kontroversen Diskussionen begleitet sind. Es gibt bei uns nicht nur Zustimmung. Das ist manchmal etwas schwierig auszuhalten, aber mich hat es weitergebracht. Und zuletzt ist die Verankerung bei der Caritas als Träger der Wohlfahrtspflege wichtig. Zum Beispiel werden die Sitzungen meiner jetzigen Gruppe von einer fachkundigen Person aus dem Seelsorgeteam begleitet. Das ist für viele Suchtbetroffene nochmals eine Hilfestellung.

Für viele Suchtkranke ist Anonymität genau das Richtige, aber mir hat es geholfen, meine Sucht als Teil meiner Person mit meinem Namen zu begreifen.

Roland Männer

© ByGurzoglu / Shutterstock.com
© ByGurzoglu / Shutterstock.com
Redaktion

Warum ist die langfristige Unterstützung durch eine Selbsthilfegruppe für Suchterkrankte so wichtig?

Männer

Ich spreche am besten von mir: Der Alkohol hat mich zu einem anderen Menschen gemacht. Ich habe mit dem Trinken auch deshalb begonnen, weil ich nirgendwo anecken wollte und mir der Alkohol dabei geholfen hat, freundlich zu sein. Genauso hat mich aber die Abstinenz zu einem anderen Menschen gemacht, zu einem, der auch nein sagen kann, wenn ihm etwas nicht passt. Für das Umfeld sind derartige Verhaltensänderungen nicht einfach. Will heißen: Mit der Abstinenz lösen sich nicht alle Probleme urplötzlich in Luft auf. Deshalb brauchen Suchtkranke und oft genauso das familiäre Umfeld auch noch während der Abstinenz Unterstützung.

Redaktion

Wie hat ihr Umfeld auf den abstinenten Roland Männer reagiert? Haben Sie Beispiele?

Männer

Meine Familie musste sich an den abstinenten Roland Männer erst gewöhnen, es gab schwierige Phasen. Das berufliche Umfeld ist dafür gut mit der Suchterkrankung umgegangen, ich bekam nach einem halben Jahr wieder meinen alten Dienstposten. Nur für die Kollegen, die früher mit mir mitgetrunken hatten, war ich eine Unperson. Sonst gab es im Beruf viele Veränderungen zum Positiven. Während meiner Zeit, in der ich getrunken hatte, hatten mich meine Vorgesetzten indirekt gedeckt, indem sie mich von komplexen Aufgaben weggehalten haben. Mit der Abstinenz hat sich das geändert, ich habe mich in das Thema EDV eingefuchst und sogar an Lernprogrammen für den Polizeidienst mitgearbeitet.

Redaktion

Wie wurde aus dem abstinenten Roland Männer der im Kreuzbund ehrenamtlich engagierte Roland Männer?

Männer

Es gibt im Kreuzbund keine Verpflichtung, Mitglied zu werden. Aber mir war klar, dass ich etwas zurückgeben möchte. Deshalb setze ich mich jetzt ehrenamtlich für den Kreuzbund ein, in meiner Gruppe oder mit Vorträgen in der Suchtprävention. Und so wie ich denken und handeln viele Suchtbetroffene. Der Kreuzbund wird damit größtenteils ehrenamtlich getragen, nur in der Bundesgeschäftsstelle gibt es hauptamtliche Kräfte. Das heißt: Die meisten Ehrenamtlichen bei uns sind abstinente Suchtkranke oder Familienangehörige von Suchtkranken. Auch deshalb kann es bei uns keine Anonymität geben.

© Jacob Lund / Shutterstock.com
Redaktion

Sie sprechen die Präventionsarbeit an. Die Arbeit des Kreuzbundes ist erfolgreich, drei Viertel der Menschen, die regelmäßig zu den Treffen der Selbsthilfegruppen kommen, bleiben abstinent. Aber wäre es nicht besser, die Menschen würden erst gar nicht suchtkrank?

Männer

Natürlich wäre das besser und ich sehe bei dem Thema den Staat in der Verantwortung. Um bei der Alkoholsucht zu bleiben: In der Gesellschaft hat ein Wandel eingesetzt. Alkohol wird eben nicht mehr wie in meiner Jugendzeit mit Männlichkeit gleichgesetzt. Im Beruf werden Beförderungen oder der Ausstand nicht mehr mit dem früher obligatorischen Glas Sekt gefeiert. Das ist ein Erfolg. Aber es ist in Deutschland immer noch viel zu einfach, Alkohol einzukaufen, es ist immer noch erlaubt, Alkohol in der Öffentlichkeit zu konsumieren. An fast jeder Supermarktkasse gibt es Süßigkeiten für quengelnde Kinder und es gibt den Flachmann, den man als suchtkranke Person nach dem Kauf diskret in einer Jackentasche verschwinden lassen kann. Bei uns musste sogar die Tabakindustrie Schockbilder auf die Zigarettenverpackungen drucken, aber die Alkohollobby scheint mir noch stärker zu sein als die Tabaklobby. Gehen Sie mal nach Amerika, ins Land der Freiheit. Dort ist Alkoholkonsum deutlich stärker reglementiert als hier.

Redaktion

Vom Staat wünschen Sie sich mehr Regulierung. Was wünschen Sie sich von Kirche und Caritas als Träger des Kreuzbundes?

Männer

Dass Sucht innerkirchlich mehr Aufmerksamkeit bekommt. Der Kreuzbund ist Teil der Kirche. Wir haben 1.200 Selbsthilfegruppen. Priester, Laien, Pfarrgemeinderäte, Ehrenamtsgruppen: Informiert euch, was Sucht bedeutet und was ihr dagegen tun könnt. Nicht auf dem Papier und im Internet, sondern in der Praxis. Kommt bei uns vorbei und schaut euch die Arbeit des Kreuzbundes an.

Informiert euch, was Sucht bedeutet und was ihr dagegen tun könnt. Nicht auf dem Papier und im Internet, sondern in der Praxis.

Roland Männer
Ein Beitrag von:
© Jürgen Hinterleithner
freier Autor

Hans Pöllmann

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