Wer in der Fastenzeit in eine Kirche geht, sieht es meist schon von weitem: das Hungertuch. Es hängt über dem Altar oder im Chorraum – mal bunt und voller Figuren, mal auf abstrakte Formen und einzelne Farben reduziert. Es steht im Kontrast zum restlichen Kirchenraum, der in der Zeit von Aschermittwoch bis Ostern bewusst schmucklos gehalten wird. Was hat es damit auf sich?
Nun, was die modernen Hungertücher angeht: für die ist das kirchliche Hilfswerk Misereor verantwortlich. Jedes Jahr führt das Hilfswerk eine große Spendenaktion zur Fastenzeit durch. Und 1976 kam man auf die Idee, in besonderer Form darauf aufmerksam zu machen. Seitdem gestalten Künstlerinnen und Künstler aus Asien, Afrika und Lateinamerika alle zwei Jahre ein Hungertuch. Sie vermitteln ihren jeweiligen Blick auf die Schöpfungsbewahrung, Rechte der Frauen oder Gerechtigkeit – und bringen das mit dem christlichen Glauben zusammen. Thematisch sind die Misereor-Hungertücher also modern. Doch was das Tuch an sich angeht, greifen sie eine uralte Tradition auf.
Ursprung des Hungertuchs
Die ersten Hungertücher (lateinisch „velum quadragesimale“ genannt, was „Fastentuch“ bedeutet) kamen um das Jahr 1000 auf. Mit den heutigen Misereor-Tüchern hatten sie jedoch kaum etwas gemein. Statt farbenfroh und künstlerisch gestaltet, waren sie einheitlich leinenweiß, schwarz oder violett. Und sie waren größer als ihre modernen Pendants, viel größer: Sie reichten vom Boden bis ins spitzbogige Gewölbe und trennten den kompletten Chorraum blickdicht vom Rest der Kirche ab. In Kloster- und Kathedralkirchen hingen sie noch ein Stück weiter östlich, damit auch die im Chorgestühl sitzenden Ordensleute oder Kleriker den Altar nicht sehen konnten.
Warum hat man das gemacht? Der Grund liegt in der mittelalterlichen Bußpraxis. Zu der Zeit, als die Hungertücher entstanden, hatte sich die geheime Ohrenbeichte bereits durchgesetzt. Für besonders schwere Sünden wurde aber immer noch eine öffentliche Buße verordnet: Sünderinnen und Sünder mussten sich am Aschermittwoch öffentlich für schuldig bekennen und wurden vom Empfang der Kommunion oder gleich ganz vom Besuch der Messe ausgeschlossen. Am Gründonnerstag wurden sie – nach abgeleisteter Bußhandlung – wieder in die Gemeinschaft aufgenommen.